Politische Justiz. Otto Kirchheimer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Otto Kirchheimer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863935528
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und ungewiss. Wie viele Menschen, die sich zu einer politischen Sache nicht bekennen oder sich mit einer politischen Sache nicht mehr identifizieren, sind in den Mahlstrom der politischen Justiz hineingerissen worden? Wie viele politische Pläne bleiben ohne Verschulden ihrer Träger für immer zum Fehlschlag verurteilt? Soll in alledem kein Sinn mehr gesucht werden? Soll man sich damit bescheiden, dass die Autorität des jeweiligen Regimes aufrechterhalten werden müsse, und in jedem Gerichtsurteil, weil es ein Urteil ist, auch schon den Beweis dafür sehen, dass es notwendig und legitim gewesen sei? Aber ein Gericht hat – wenigstens offiziell – mit dem wirklichen Bedürfnis nach politischer Strafverfolgung, die im Ermessen der Exekutive liegt, kaum etwas zu schaffen; es befasst sich nur – nach Maßgabe der geltenden Gesetze – mit der Zulässigkeit und Beweiskraft des vorgelegten Anklagematerials. Wichtiger noch: Wer kann je verbürgen, dass sich die Sache des Regimes, das den Beistand des Gerichts anruft, als verteidigungswert erweisen werde?

      Selten findet die Erkenntnis Anklang, dass Asylgewährung und Gnadenerweis unzertrennlich zur politischen Justiz gehören. Schon die Gleichheit des Stils ordnet sie diesem Bereich zu: hier herrscht dieselbe Zufälligkeit, dieselbe Regellosigkeit des Vorgehens. Aber auch wenn man von diesen äußeren Merkmalen absieht, gibt es eine innere Logik, eine innere Notwendigkeit, die Asyl und Gnade an den Streitwagen der politischen Justiz kettet. Je weiter sich die Praxis der politischen Justiz auch vom blassesten Abklatsch der Gerechtigkeit entfernt, umso mehr bedarf es dieser außerordentlichen Aushilfsmittel, die miteinander in keinem Zusammenhang zu stehen scheinen, umso mehr ist ihre Anwendung geboten.

      Ob ein politisch Verfolgter Asyl findet, ist purer Zufall. Der flüchtige Regimegegner muss zweimal Glück haben: Er muss seinen Verfolgern entkommen, und er muss ein unbeteiligtes Land ausfindig machen, das ihm Zuflucht gewährt. Die Gründe dafür, dass Asyl zugestanden oder abgeschlagen wird, die Vorschriften, die über die Asylgewährung entscheiden, oder das Fehlen solcher Vorschriften, die Prüfung der dem Asylsuchenden zur Last gelegten Handlungen und seiner Beweggründe: Das alles fällt in den Wirkungsbereich der politischen Justiz.

      Ist die Asylgewährung ein Glücksfall, der sich vielleicht zu einer für die Verfolgten günstigen Politik ausweitet, so ist der Gnadenerweis der Verzicht auf Strafverfolgungsansprüche, der vielleicht nicht zugegeben werden darf. Unter welchen Umständen wird ein politisches System zur Geste der Milde bereit sein? Wie sehr beruhen solche Gesten darauf, dass das Regime es müde ist, sich immer wieder mit den unabsehbar anmutenden Folgen dessen, was es einst getan hatte, herumzuschlagen? Muss jeder Versuch sinnlos sein, das, was die jeweiligen Machthaber zu bewilligen geneigt sein mögen, in ein System zu bringen? Und wenn ein System darin liegt, wird es nicht von neuem ein Gefüge zusätzlicher Gewinne für diejenigen offenbaren, die das Räderwerk der politischen Justiz in Gang setzen, als ob ihnen aus einer zweifelhaften Kapitalanlage vermehrte Erträge zuflössen? Muss jedes Bemühen um eine rationale Erklärung an dieser Stelle ein Ende finden? Haben wir nur ein bloßes Ablassventil vor uns, das ebenso verwirrend funktioniert wie die politische Justiz selbst?

      Wenn aber alle politische Justiz in Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit oder, wie man in weiter östlich gelegenen Gefilden abschätzig meint, in »Praktizismus« gehüllt ist, wozu dann der Aufwand? Wäre es nicht klüger, sich achselzuckend abzuwenden? Doch auch Unbestimmtheit kann, wenn es eine klare und eindeutige Regel nicht gibt, ihre Vorteile haben: Der politische Angeklagte und seine Freunde werden der Niedertracht und Misswirtschaft eines Systems, das sie zu Fall gebracht hat, nicht weniger moralische Genugtuung abgewinnen als der Ankläger und der Richter, die einander Rechtschaffenheit und Amtstreue bescheinigen dürfen.

      Oder soll man gar der Geschichte die Entscheidung darüber überlassen, wer im Recht gewesen sei? Die ach so beliebte Berufung auf das Urteil der Geschichte ist zu aalglatt und zu bequem, um wahr zu sein. Der geschichtliche Prozess, der Tausende von politischen Lösungen ohne Unterlass auf den Misthaufen wirft, ohne sich um den Wert oder Unwert ihrer Urheber zu kümmern, eignet sich schlecht als Maßstab für die Bewertung der politischen Justiz. Dieser Notbehelf der Politik, der darin besteht, dass die Gerichte mit ausgesuchten Teilausschnitten politischer Konflikte befasst werden, muss seine Rechtfertigung wohl oder übel in sich selbst tragen.

      Wie funktioniert dieser Notbehelf der Politik? Was haben die Beteiligten auf dieser und auf jener Seite, wenn sie die Gerichte anrufen, zu gewärtigen? Mit welcher Berechtigung dürfen die Gerichte als Organe angesehen werden, die Recht sprechen? Unter welchen Voraussetzungen werden die politischen Konflikte der Justiz unterbreitet, auf ein totes Gleis geschoben oder sang- und klanglos aus der Welt geschafft? Welche Wirkungen übt ihr geplanter, ihr erwarteter, ihr unerwarteter rechtlicher Ausgang auf die politischen Vorhaben aus, von denen sie ihren Ausgang genommen haben? Über all diese Dinge soll hier berichtet und das Berichtete zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht werden.