Selten findet die Erkenntnis Anklang, dass Asylgewährung und Gnadenerweis unzertrennlich zur politischen Justiz gehören. Schon die Gleichheit des Stils ordnet sie diesem Bereich zu: hier herrscht dieselbe Zufälligkeit, dieselbe Regellosigkeit des Vorgehens. Aber auch wenn man von diesen äußeren Merkmalen absieht, gibt es eine innere Logik, eine innere Notwendigkeit, die Asyl und Gnade an den Streitwagen der politischen Justiz kettet. Je weiter sich die Praxis der politischen Justiz auch vom blassesten Abklatsch der Gerechtigkeit entfernt, umso mehr bedarf es dieser außerordentlichen Aushilfsmittel, die miteinander in keinem Zusammenhang zu stehen scheinen, umso mehr ist ihre Anwendung geboten.
Ob ein politisch Verfolgter Asyl findet, ist purer Zufall. Der flüchtige Regimegegner muss zweimal Glück haben: Er muss seinen Verfolgern entkommen, und er muss ein unbeteiligtes Land ausfindig machen, das ihm Zuflucht gewährt. Die Gründe dafür, dass Asyl zugestanden oder abgeschlagen wird, die Vorschriften, die über die Asylgewährung entscheiden, oder das Fehlen solcher Vorschriften, die Prüfung der dem Asylsuchenden zur Last gelegten Handlungen und seiner Beweggründe: Das alles fällt in den Wirkungsbereich der politischen Justiz.
Ist die Asylgewährung ein Glücksfall, der sich vielleicht zu einer für die Verfolgten günstigen Politik ausweitet, so ist der Gnadenerweis der Verzicht auf Strafverfolgungsansprüche, der vielleicht nicht zugegeben werden darf. Unter welchen Umständen wird ein politisches System zur Geste der Milde bereit sein? Wie sehr beruhen solche Gesten darauf, dass das Regime es müde ist, sich immer wieder mit den unabsehbar anmutenden Folgen dessen, was es einst getan hatte, herumzuschlagen? Muss jeder Versuch sinnlos sein, das, was die jeweiligen Machthaber zu bewilligen geneigt sein mögen, in ein System zu bringen? Und wenn ein System darin liegt, wird es nicht von neuem ein Gefüge zusätzlicher Gewinne für diejenigen offenbaren, die das Räderwerk der politischen Justiz in Gang setzen, als ob ihnen aus einer zweifelhaften Kapitalanlage vermehrte Erträge zuflössen? Muss jedes Bemühen um eine rationale Erklärung an dieser Stelle ein Ende finden? Haben wir nur ein bloßes Ablassventil vor uns, das ebenso verwirrend funktioniert wie die politische Justiz selbst?
Wenn aber alle politische Justiz in Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit oder, wie man in weiter östlich gelegenen Gefilden abschätzig meint, in »Praktizismus« gehüllt ist, wozu dann der Aufwand? Wäre es nicht klüger, sich achselzuckend abzuwenden? Doch auch Unbestimmtheit kann, wenn es eine klare und eindeutige Regel nicht gibt, ihre Vorteile haben: Der politische Angeklagte und seine Freunde werden der Niedertracht und Misswirtschaft eines Systems, das sie zu Fall gebracht hat, nicht weniger moralische Genugtuung abgewinnen als der Ankläger und der Richter, die einander Rechtschaffenheit und Amtstreue bescheinigen dürfen.
Oder soll man gar der Geschichte die Entscheidung darüber überlassen, wer im Recht gewesen sei? Die ach so beliebte Berufung auf das Urteil der Geschichte ist zu aalglatt und zu bequem, um wahr zu sein. Der geschichtliche Prozess, der Tausende von politischen Lösungen ohne Unterlass auf den Misthaufen wirft, ohne sich um den Wert oder Unwert ihrer Urheber zu kümmern, eignet sich schlecht als Maßstab für die Bewertung der politischen Justiz. Dieser Notbehelf der Politik, der darin besteht, dass die Gerichte mit ausgesuchten Teilausschnitten politischer Konflikte befasst werden, muss seine Rechtfertigung wohl oder übel in sich selbst tragen.
Wie funktioniert dieser Notbehelf der Politik? Was haben die Beteiligten auf dieser und auf jener Seite, wenn sie die Gerichte anrufen, zu gewärtigen? Mit welcher Berechtigung dürfen die Gerichte als Organe angesehen werden, die Recht sprechen? Unter welchen Voraussetzungen werden die politischen Konflikte der Justiz unterbreitet, auf ein totes Gleis geschoben oder sang- und klanglos aus der Welt geschafft? Welche Wirkungen übt ihr geplanter, ihr erwarteter, ihr unerwarteter rechtlicher Ausgang auf die politischen Vorhaben aus, von denen sie ihren Ausgang genommen haben? Über all diese Dinge soll hier berichtet und das Berichtete zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht werden.
1 Die Merkmale von Regimes und Regierungen sind einer niedrigeren Abstraktionsebene entnommen als die Kennzeichen eines »politischen Systems«; sie bezeichnen einen höheren Grad der Konkretisierung.
2 Rudolf Smend: »Verfassung und Verfassungsrecht« {zuerst 1928}, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin, 1955, S. 208 f. Mit dem Bemühen, den Gerichten auf den verschlungenen Pfaden dieser ihrer Doppelrolle nachzuspüren, versuche ich, in die Fährnisse der von Smend betonten Befreiung der Gerichte von der Staatsleitung einzudringen.
3 Plutarch: Vergleichende Lebensbeschreibungen, Kapitel »Solon«, Abschnitt 20.
4 Siehe weiter unten Anhang A.
5 Aus der Fülle der Entnazifizierungsliteratur ist zunächst die amtliche amerikanische Bilanz hervorzuheben: Office of the U.S. High Commissioner: Fifth Quarterly Report, October 1st – December 21st 1950, S. 46-55. Über die Entnazifizierung der Justiz unterrichtet eine recht wirklichkeitsnahe Darstellung aus der Anfangszeit: Karl Loewenstein: »Reconstruction of the Administration of Justice in American-occupied Germany«, in: Harvard Law Review, Jahrgang LXI, S. 419-467 (Heft 3, Februar 1948), insbesondere 442 ff. Ein lebendiges Bild aus der lokalen Perspektive zeichnet John Gimbel: A German Community under American Occupation: Marburg, 1945 - 1952, Kapitel 9 und 10, Stanford (California), 1961.
6 Max Güde: »Justiz im Schatten von gestern. Wie wirkt sich die totalitäre Vergangenheit auf die heutige Rechtsprechung aus?« (Akademie-Vorträge zu sozialethischen Grundfragen in Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche, Heft 3), Hamburg, 1959.
7 Robert J. Bonner und Gertrude Smith: The Administration of Justice from Homer to Aristotle, Band 2, Chicago, 1938, S. 47.
8 Aus ähnlichen Überlegungen rechtfertigte der englische Oberrichter Lord Mansfield die militärischen Niederwerfungsmaßnahmen gegen die Teilnehmer an den »Gordon-Unruhen« von 1780, obgleich diese Maßnahmen ohne richterliche Legitimation angeordnet worden waren; siehe Simon Maccoby: English Radicalism, {Volume I:} 1762 - 1785, London, 1935, S. 329.
9 Formal konnte das Organ, von dem das Todesurteil gegen einen politischen Gegner ausging, ein politischer Amtsträger – zum Beispiel der Konsul – sein; in der Praxis dürfte ein solcher Amtsträger kaum Todesurteile verhängt haben, wenn er sich nicht auf die auctoritas des Senats stützen konnte. Vergleiche Gustav Geib: Geschichte des römischen Criminalprocesses bis zum Tode Justinians, Leipzig, 1842, S. 41 ff.