*
Ramona hatte bis zwei Uhr in der Nacht angezogen in ihrem Wohnzimmer gesessen und darauf gewartet, dass ihr Handy läutete. Sie war bereit, sofort loszufahren, sobald Kilian anrief, um nach seinen Schlüsseln zu fragen. Sie hatte den Fernsehapparat eingeschaltet, konnte sich aber nicht richtig auf das Programm einlassen.
Ihr Blick glitt immer wieder durch das Zimmer mit dem weißen Ledersofa und der weißen Anbauwand. Beinahe so, als hoffte sie darauf, dass Kilian ihr irgendwie erscheinen würde, um ihr mitzuteilen, wo er sich gerade aufhielt. Aber natürlich passierte das nicht. Irgendwann war sie dann eingeschlafen. Als sie gegen acht Uhr am nächsten Morgen aufwachte, lag sie in einer unbequemen Stellung auf dem Sofa und fühlte sich wie gerädert.
»Was soll das?«, sagte sie laut, als sie auf ihr Handy schaute und weder einen verpassten Anruf noch eine SMS von Kilian vorfand. Offensichtlich wurde diese ganze Mühe, die sie sich am Tag zuvor gemacht hatte, nicht von Erfolg gekrönt.
Ihre vorgeschobene Arbeit im Büro, die Idee, noch einmal ins Büro zurückzumüssen, um an seinen Schlüssel zu gelangen, alles war so verlaufen, wie sie es geplant hatte. Dann dieser Schock, dass er versuchte, sich Paula anzunähern. Aber wenigstens hatte er so nicht mehr an seinen Schlüssel gedacht. Sie war absolut sicher, dass er sie anrufen würde, sobald er vor seinem Haus stand. Dass er es nicht getan hatte, war kein gutes Zeichen.
Sie war wütend und enttäuscht zugleich. Sie musste herausfinden, was da los war. Nachdem sie sich eine Weile unter die Dusche gestellt hatte, um wach zu werden, rief sie Kilian an.
»Ja, hallo?«, meldete er sich irgendwann mit verschlafener Stimme.
»Wo bist du? Wo hast du übernachtet?«
»Warte kurz. Ja, ich nehme ein Bier«, hörte sie ihn sagen. »Ich nehme an, du hast meine Schlüssel«, wandte er sich gleich darauf wieder an sie.
»Ja, habe ich. Hast du im Biergarten übernachtet?«
»Nein, bei Paula. Ramona?«, fragte er dann, als er sie schwer atmen hörte.
»Ich bin in einer Stunde im Café Höfner. Du kannst dir deine Schlüssel dort abholen«, sagte Ramona und beendete das Gespräch. »Mistkerl!«, rief sie und feuerte sämtliche Sofakissen durch das Zimmer. Wie konnte er ihr das antun? Was hatte diese Frau, was sie nicht hatte? Ich muss mich beruhigen. Wut ist ein schlechter Berater. Sie musste ihren Verstand einschalten, wenn sie Paula besiegen wollte.
*
»Ein wirklich interessantes Frühstück«, stellte Kilian fest, als er mit Paula in der Küche des Berghofes saß.
Auf dem rustikalen Kiefernholztisch standen Kaffee und Malzbier, Bratkartoffeln und Rühreier, würziger Allgäuer Käse, frische Butter und dunkles Brot.
»Möchtest du lieber etwas anderes?«, fragte Paula verunsichert, weil sie das Frühstück ganz nach ihrem eigenen Appetit ausgerichtet hatte und einfach davon ausgegangen war, dass Kilian damit einverstanden sein würde.
»Nein, ich möchte nichts anderes. Ich liebe Bratkartoffeln zum Frühstück.«
»Manchmal esse ich auch Suppe zum Frühstück.«
»Das klingt auch interessant. Wir sollten öfter miteinander frühstücken.«
»Weil ich mich nicht auf Brötchen, Käse und Marmelade beschränke?«
»Dass du es nicht tust, beweist, dass du außergewöhnlich bist.«
»Und das gefällt dir?«
»Ja, sehr«, antwortete er. Sie saßen nebeneinander auf der Eckbank, schauten sich an und jeder versank in den Augen des anderen. »Ich bin sicher, du wirst mich noch oft überraschen«, sagte er und küsste sie zärtlich auf die Wange. »Was wollen wir heute unternehmen?«, fragte er sie, während er sich sein Frühstück schmecken ließ.
»Am liebsten würde ich den Tag hier auf dem Hof verbringen. Mit dir in der Sonne liegen und über Gott und die Welt reden. Zu langweilig?«, fragte sie leise nach, als er nicht gleich antwortete.
»Nein, es ist ein wunderbarer Vorschlag«, sagte er, und sein Lächeln verriet ihr, dass er es ehrlich meinte. »Hör zu, ich gehe nach dem Frühstück ins Dorf, treffe mich dort mit Ramona und komme dann mit meinem Auto zurück.«
»Ich kann dich auch ins Dorf fahren.«
»Nein, das musst du nicht. Ich nehme die Abkürzung quer durch den Wald, dann bin ich in einer Viertelstunde unten am Rathaus. Du wirst mich also höchstens eine Stunde vermissen. Du wirst mich doch vermissen, oder?«, fragte er mit einem schelmischen Lächeln.
»Ja, ich werde dich vermissen, und ich werde mir Sorgen machen.«
»Warum?«
»Weil es Ramona nicht gefallen wird, wenn sie mitbekommt, dass…«
»Du meinst, dass wir jetzt zusammen sind?«, fragte er, als Paula nach einer Umschreibung suchte, weil sie sich nicht sicher war, ob sie es schon so direkt aussprechen sollte.
»Das wollte ich sagen«, stimmte sie ihm zu, und es gefiel ihr, wie selbstverständlich das bei ihm klang.
»Du musst dir um Ramona keine Gedanken machen. Ich habe ihr nie irgendeinen Grund gegeben anzunehmen, dass aus uns mehr werden könnte. Ganz davon abgesehen, wäre es ohnehin mein Problem.«
»Sie könnte uns so etwas wie einen Himmelstier schicken.«
»Sie ist keine Liebesgöttin.«
»Richtig, aber eine eifersüchtige Frau ist äußerst fantasiebegabt, wenn sie auf Rache aus ist.«
»Sprichst du aus Erfahrung?«, fragte er sie verwundert.
»Nein, ganz und gar nicht. Eifersucht verbraucht unnötig Energie. Wenn jemand gehen möchte, dann soll er gehen. Ich ziehe mich in so einem Fall lieber zurück, bin ein bisschen traurig und fange mich dann irgendwann wieder.«
»Ramona hat, wie gesagt, keinen Grund, eifersüchtig zu sein.«
»Hoffen wir mal, dass sie das auch weiß.«
»Ich werde kein Geheimnis aus uns machen. Sie wird sich schon daran gewöhnen. Vielleicht werdet ihr ja irgendwann sogar noch Freundinnen.«
»Das wohl eher nicht, aber einen freundlichen Umgangston würde ich mir schon wünschen.«
»Ich denke, das wird sie hinbekommen.«
Paula nickte zustimmend, obwohl sie im Gegensatz zu Kilian nicht davon überzeugt war, dass diese Wunschvorstellung Wirklichkeit werden könnte. Als Kilian sich eine halbe Stunde später auf den Weg ins Dorf machte, stand sie noch eine ganze Weile in der geöffneten Haustür und schaute ihm nach. Hoffentlich findest du die richtigen Worte für Ramona, dachte sie, bevor sie die Tür schloss und in die Küche ging, um den Tisch abzuräumen.
*
Der Marktplatz mit seinem alten Kopfsteinpflaster und dem historischen Steinbrunnen war an diesem Morgen schon recht bevölkert. Die Berge streckten sich mit ihren mächtigen grauen Gipfeln an den stahlblauen Himmel und boten wie immer eine prächtige Kulisse für das Dorf mit seinen hübsch restaurierten Häusern und Gassen.
Die meisten Tische des Cafés Höfner, die draußen vor der Tür unter der mächtigen Krone einer Kastanie standen, waren besetzt. Einheimische und Urlaubsgäste kamen gerade am Sonntag gern schon am Vormittag hierher, um sich gleich zum Frühstück ein Stück von den köstlichen Kuchen oder Torten aus der familieneigenen Konditorei der Höfners zu gönnen.
Ramona hatte sich ein Stück Schokoladentorte und einen Cappuccino bestellt, in dem sie mit einem kleinen Löffel nachdenklich herumrührte, als Kilian an ihren Tisch kam.
»Schön, dass du da bist«, sagte sie und legte den Löffel beiseite. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und strich über den Rock ihres taubenblauen Leinenkleides, bevor sie aufschaute