Sam seufzte leise in Dereks Ohr. »Wenn du damit meinst, dass ich nach Denver muss, um eine weitere psychiatrische Beurteilung über mich ergehen zu lassen, dann ja. Alles bestens. Ich kann es kaum erwarten.«
Derek kniff sich in die Nasenwurzel, um sein verschlafenes Gehirn zu wecken. »Im Ernst? Schon wieder?«
»Beths Vorgesetzter war mit der ursprünglichen Beurteilung nicht zufrieden, deshalb wollen sie noch eine. Außerdem wollen sie Berichte über den Verlauf meiner Reha und sie denkt, dass ich mich für einen Kurs anmelden muss, um… zu lernen, mit meiner Behinderung umzugehen und wie ich mein Leben leben soll. Es interessiert keinen, dass ich schon seit einer Ewigkeit damit umgehen muss und mich um May kümmere, seit sie neun Monate alt ist, verdammt noch mal.«
Brennende Wut breitete sich in Dereks Bauch aus, aber er hielt sie im Zaum. Sam hatte sie vorgewarnt, dass sie ihn dabei unterstützen mussten, sich dem System zu beugen und alles zu tun, was man von ihm verlangte, statt sich dagegen zu wehren, was wohl ihre erste Reaktion gewesen wäre. »Das tut mir leid«, sagte er schließlich. »Was kann ich tun?«
»Ich habe Kat angerufen. Sie hat heute Morgen zwei Termine, aber sie sagt, sie kann dir May vor deinem ersten Kunden abnehmen, wenn du sie zu ihr in den Laden bringst.«
»Ich rufe sie an«, sagte Derek, »aber das sollte klappen. Und wenn ich die Termine absagen soll…«
»Alter, nein«, sagte Sam hastig. »Du wirst deswegen keine Termine absagen. Wenn Kat es aus irgendeinem Grund nicht schafft, kann Mat aushelfen. Er sagte, dass er sich heute nur um Laufkundschaft kümmert. Wir kriegen das schon hin, außerdem will ich das so schnell wie möglich hinter mich bringen und nach Hause kommen.«
»Okay«, sagte Derek. Er verschwieg Sam, dass er sich über einen Grund gefreut hätte, seine Termine heute abzusagen. Durch die Panikattacke war sein Kopf immer noch etwas benebelt. Zwar konnte er damit seinem Job nachgehen, aber eine Pause würde ihm guttun. »Fahr vorsichtig und komm nach Hause, sobald du kannst. Du weißt doch, dass sie bei uns in guten Händen ist.«
»In den besten«, versicherte Sam ihm mit warmer Stimme. »Gib ihr einen Kuss von mir und sag ihr, dass sie brav sein soll. Ich melde mich, wenn ich auf dem Rückweg bin.«
»Alles klar. Bis später.« Derek beendete den Anruf, dann öffnete er seine Nachrichten-App und schickte seinem Bruder eine kurze Textnachricht.
Derek: Wo steckst du?
Sage: Auf der Arbeit, du fauler Sack. Wieso?
Derek: Ich hab May bis heute Nachmittag. Sam wird wieder gepiesackt. Mittagessen?
Sage: Auf jeden Fall. Ich vermisse den Zwerg. Komm gegen 12 vorbei. Ich helfe Kat mit Jazzy, dann können wir zusammen was holen.
Derek schaute auf die Uhr und sah, dass es gerade kurz nach acht war, was bedeutete, dass er noch genug Zeit hatte, sie zu wecken, ihr Frühstück zu machen und mit ihr zu spielen, sodass sie sich nicht wie ein Monster aufführen würde, wenn er sie mit in den Laden nahm. Er wand sich unter ihr hervor und lehnte sie an die Sofakissen, dann ging er in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine an. Als die Kanne voll war, kam Maisy in die Küche geschlurft und ihre nackten Füße patschten auf den Fliesen. Sie rieb sich mit ihrer kleinen Faust die Augen und hob den anderen Arm, damit er sie hochnahm.
Derek zögerte nicht sie hochzuheben und setzte sie auf seine Hüfte, dann ging er mit ihr zum Gefrierfach, um ihre Waffeln zu holen.
»Hast du Hunger, Zwerg?«
Sie zuckte mit den Schultern und gähnte. »Ich will Schokowade.«
Er unterdrückte ein Lachen und sagte: »Wie wäre es, wenn ich die hier toaste und dir dazu Butter und Sirup gebe?«
Sie rümpfte die Nase und wand sich in seinen Armen. »Neeein. Will sie so!« Sie grapschte nach der offenen Packung und bevor Derek es verhindern konnte, schnappte sie sich eine der gefrorenen Scheiben und kaute sofort darauf herum. Schockiert ließ er sie zu Boden gleiten und starrte sie an, dann nahm er sein Handy und schickte Sam eine Nachricht.
Derek: Dieses sogenannte Kind, das du aufziehst, isst gerade eine gefrorene Waffel.
Sam: LOL Ja, das macht sie so. Ist schon in Ordnung. Brich deswegen keine Diskussion mit ihr vom Zaun, Mann, glaub mir.
Derek: Eklig, aber was soll’s.
Nur weil er wusste, dass Sam Maisy nie etwas tun lassen würde, was gefährlich für sie wäre, ließ er sie weiter ihr gefrorenes Frühstück essen. Doch er ignorierte, wie sie mit ihren kleinen Gremlin-Zähnen die Waffel zerriss, und konzentrierte sich stattdessen auf seinen Kaffee.
Als sie satt war, rannte sie aus dem Zimmer, um mit ihren Puppen zu spielen, und Derek machte sich eine Schale Müsli zurecht, um Energie zu tanken. Er blieb im Türrahmen zwischen der Küche und dem Wohnzimmer stehen und schaute aus dem Fenster. Der Morgen war grau, die Straße immer noch nass vom Regen, aber es schien aufzuklaren. Was bedeutete, dass der Tag schwül und nicht sehr angenehm werden würde, da der Frühling schneller zum Sommer wurde, als ihm lieb war, aber es bedeutete ebenfalls, dass sein Semester beinahe zu Ende war, und darüber war er wiederum nicht traurig.
Es fühlte sich komisch an, in seinem Alter mit lauter Achtzehn- und Neunzehnjährigen in einem Klassenzimmer zu sitzen, auch wenn ihm eigentlich klar war, dass daran nichts verkehrt war. Sein Bruder und er hatten einen schwierigen Start gehabt und er hatte eben länger als Sage gebraucht, bis er große Menschenmengen ertragen konnte und es schaffte, die Schule, seine Kunst und seine Kunden unter einen Hut zu bringen.
Dennoch war es schwer und er genoss die Freiheit, die er im Sommer hatte, in vollen Zügen, aber er hatte das Gefühl, dass er allmählich Fortschritte machte. Selbst Situationen wie am Vorabend, durch die er sich vor einem Jahr noch um zehn Schritte zurückgeworfen gefühlt hätte, belasteten ihn nicht mehr auf die gleiche Weise. Das hatte bestimmt mit Leila zu tun, seiner Therapeutin, die ihm Bewältigungsmechanismen beigebracht hatte, die auch tatsächlich funktionierten. Aber es war auch ein Zeichen seiner eigenen Stärke und seines Wunsches, sein Leben in den Griff zu bekommen.
Er würde immer unter einem Trauma leiden, aber er würde nicht zulassen, dass es sein Leben bestimmte.
»DeDe?«, fragte Maisy und riss Derek aus seinen Gedanken, indem sie an seinem T-Shirt zupfte.
Er lächelte sie an. »Ja, Kleines?«
»Können wir draußen pielen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Wollen wir zu dem Teich die Straße runtergehen und die Enten füttern?«
Sie sprang vor Begeisterung auf und ab, dann stolperte sie über ihre eigenen Füße, als sie hastig versuchte, ihre Schuhe anzuziehen. »Ja! Ja, ich will… da will ich hin!«
Kapitel 3
Nach einer Stunde konnte Derek Maisy überzeugen, sich von den Enten zu verabschieden, und das auch nur, weil er ihr versprach, dass Jasmine da sein würde, wenn sie zum Studio kamen. Er parkte hinter dem Gebäude und trug sie durch den Hintereingang hinein. Sie fanden Katherine in ihrem Raum vor, wo sie sich anscheinend auf ihren nächsten Kunden vorbereitete.
Sie packte das Tablett mit ihren Utensilien gerade mit Folie ein und schaute mit einem Grinsen auf. »Hey, Kleine! Willst du mich besuchen?«
»Ja«, sagte Maisy und wand sich aus Dereks Armen. Doch er hielt sie fest, damit sie in dem sauberen Zimmer nichts verunreinigte, aber Katherine zog schnell ihre Handschuhe aus und kam heraus, um das kleine Mädchen in die Arme zu nehmen und ihr einen Kuss auf die Wangen zu geben.
»Gehen du und DeDe mit Jazz und Onkel Sage zum Mittagessen?«
»Ich will Chicken Nuggets«, verkündete Maisy, wie erwartet.
Derek verdrehte lächelnd die Augen, dann nahm er das Mädchen wieder zurück. »Und vielleicht etwas Grünes«, fügte er hinzu. »Ist mein Bruder hier?«
Kat nickte und wies mit dem Kinn zu der Schwingtür, die