Der Fremde unterbrach ihn mit einem ungeduldigen Laut und zog sein Handy zurück, dann hörte er das leise Klicken der Tastatur des iPhones, während der Mann tippte. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis das Handy wieder in seinem Blickfeld erschien. Tut mir leid, kann nicht verstehen. Gehörlos. Ich bin Basil. Bitte schreiben.
Dir helfen, OK?
Derek starrte auf die Worte und versuchte, sie in seinem verwirrten Gehirn zu verarbeiten, aber er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Seine Hände lagen weiterhin am Fenster und das Atmen fiel ihm immer schwerer. Er kniff die Augen zu, als ein vertrautes Schwindelgefühl ihn überkam und der Raum begann, sich zu neigen.
Aber gerade, als er dachte, dass er den Verstand verlieren würde, legte eine Hand sich an sein Brustbein. Er wurde vorsichtig vom Fenster weggedreht und der Mann ‒ Basil ‒ nahm Dereks rechte Hand und legte sie auf sein Brustbein. Derek wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber dann spürte er, wie die Brust des Mannes sich unter langsamen, gleichmäßigen Atemzügen hob und senkte. Basil zählte einen Rhythmus mit, indem er ihm auf den Arm klopfte.
Eins. Zwei. Drei.
Eins. Zwei. Drei.
Derek entließ langsam die Luft aus seiner Lunge, atmete ein, als Basils Brust sich weitete, und hielt den Atem für eine, zwei, drei Sekunden an. Dann atmete er zusammen mit dem Fremden aus ‒ einem Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte, aber der ihn irgendwie davon abhielt, vollkommen zusammenzubrechen.
Eins. Zwei. Drei.
Sein Kopf klärte sich allmählich, nach und nach, und der Raum hörte auf, sich zu bewegen. Plötzlich schämte er sich, dass er so die Kontrolle verloren hatte. Er war immer noch eingesperrt, der Strom war immer noch ausgefallen und das Gewitter wütete immer noch, aber Derek wurde ruhiger und kehrte langsam wieder in die Realität zurück.
»Scheiße«, sagte er laut. »Es tut mir wirklich leid.« Dann verstummte er, denn ihm fiel wieder ein, was der Mann geschrieben hatte. Im schwachen Lichtschein des Displays konnte er dessen verwirrten Gesichtsausdruck erkennen.
Es verging ein weiterer Moment, in dem Basil tippte, dann reichte er Derek erneut das Handy und trat einen Schritt zurück. Panikattacke? Früher ich auch haben. Dein Name wie?
Derek runzelte die Stirn, als er die Formulierung sah, und wünschte sich sehr, er hätte sich die Mühe gemacht, mehr Gebärden zu lernen. Ein paar Wörter kannte er, die alle mit Babys zu tun hatten, denn Antonio und Katherine hatten einen Anfängerkurs besucht, nachdem bei ihrer Tochter ein Hörverlust festgestellt worden war. Das gesamte Team kannte genug Gebärden, um Jasmine zum Lachen zu bringen und zu verstehen, wenn sie ihre Flasche, einen Keks oder zu ihren Eltern wollte. Aber damit hatte es sich. Tony und Kat lagen ihnen in den Ohren, dass sie einen Anfängerkurs in ASL belegen sollten, aber das hatten sie alle vor sich hergeschoben, was er nun bereute.
Da er keine andere Möglichkeit hatte zu antworten, tippte er ein paarmal die Zurück-Taste und gab dann eine Antwort ein. Mein Name ist Derek. Ich leide an Klaustrophobie und bekomme Panikattacken, wenn ich unerwartet in engen Räumen eingeschlossen bin. Es tut mir wirklich leid, wenn ich dir Angst gemacht habe.
Er gab das Handy zurück und sah, wie Basils Gesichtszüge ein wenig weicher wurden, während er die Worte las. Dann schaute er auf und tat Dereks Entschuldigung mit einer Handbewegung ab. Er deutete auf den Boden neben der Tür und machte ein Zeichen, das Derek erkannte. ›Sitzen.‹ Als Derek nickte und sich hinsetzte, wirkte Basil überrascht. Im Licht des Handydisplays sah Derek, dass Basil mehrere Gebärden machte, aber er erkannte nur zwei. ›Gebärdensprache, du?‹
Derek bedeutete, dass er das Handy wiederhaben wollte. Die kleine Tochter von meinem Boss verliert ihr Gehör. Ich kenne ein paar Wörter, aber nicht viele. Nachdem er das Handy zurückgegeben hatte, damit Basil seine Nachricht lesen konnte, demonstrierte er: ›Milch, Keks, Mom, Dad, sitzen, Nein.‹
Bei dem letzten musste Basil lachen, ein tiefer Laut, der direkt aus seiner Brust zu kommen schien. Irgendwie fand Derek das passend. Er erwiderte das Lächeln und ärgerte sich, dass er den Mann nicht richtig erkennen konnte, dennoch war es beruhigend, dass er da war. Zwar war es furchtbar, hier eingeschlossen zu sein, aber es half, dass er nicht allein war. Draußen tobte immer noch das Gewitter und machte keine Anstalten nachzulassen, aber sie würden ja nicht ewig hier festsitzen.
Morgen früh würde die Bank irgendwann öffnen. Oder eine Sicherheitsfirma würde vorbeikommen und sie entdecken. Irgendetwas. Er konnte mit Basils Telefon sogar die Polizei rufen, wenn es hart auf hart kam. Aber im Moment war er in Sicherheit. Er trocknete allmählich, hier drin war es immer noch warm und es gab nichts, was ihn umbringen konnte.
Dereks Gedankengang wurde unterbrochen, als Basil einen fragenden Laut von sich gab, ihn am Arm berührte und ihm das Handy reichte. Tattoo? Was bedeuten?
Derek schaute zu seinem linken Arm, den er um seine angezogenen Knie geschlungen hatte, um sich zu beruhigen. Diese Frage stellte man ihm oft, aber interessanterweise hatten die meisten seiner Tattoos keine tiefere Bedeutung. Es waren Bilder, die ihm einfach gefielen und die er dauerhaft auf seiner Haut tragen wollte. Manche waren Cover-ups, die Tattoos aus seiner Jugend überdeckten, die eine schlechte Linienführung oder misslungene Schattierungen gehabt hatten oder mit Nähnadel und Tinte selbst gestochen waren. Manche waren neu und ihre Farben leuchtend, andere waren schon ein wenig verblasst.
Ihre wahre Bedeutung war Rebellion. Das Sagen über seinen eigenen Körper zu haben, nachdem er jahrelang von Menschen misshandelt worden war, die ihn eigentlich lieben sollten. Er und sein Zwillingsbruder Sage waren als Söhne eines strengen und autoritären Politikers aufgewachsen, der es für das Beste hielt, jedes Mal den Stock zur Hand zu nehmen, wenn einer von ihnen auch nur den geringsten Fehler machte. Derek mochte enge Räume nicht, weil er den Großteil seiner prägenden Jahre stundenlang in eine winzige Gartenhütte eingesperrt verbracht hatte, bis sein Vater der Meinung war, dass er seine Lektion gelernt hatte.
Derek und sein Bruder hatten stets hochgeschlossene Hemden und ordentlich gebügelte Hosen getragen und nicht eine einzige Haarsträhne hatte bei ihnen falsch gelegen. Von außen betrachtet war er ein gut angezogener, disziplinierter Junge mit großen Ambitionen gewesen, dem eine glänzende Karriere bevorstand und aus dem Dr. Osbourne werden würde, egal, in welchem Berufsfeld. Sein Gehorsam und seine Kleidung verbargen sämtliche Sünden seines Vaters und er wagte nicht, auch nur einen falschen Schritt zu machen.
Aber dann hatte er es doch getan. Mit 15 hatte er es nicht mehr ertragen und stand kurz vor dem Zusammenbruch. Und so hatte er das Auto seines Vaters gestohlen und war vom örtlichen Sheriff angehalten worden, der die Angelegenheit mit »So sind Jungs nun mal« abgetan hatte. Dabei war ihm der verängstigte Ausdruck in Dereks Gesicht nicht entgangen, als sein Vater, grausame Vorfreude kaum verhohlen, mit ihm gelacht hatte. Erst nachdem er 36 Stunden am Stück ohne Essen und Trinken in der Gartenhütte eingeschlossen gewesen war, hatte ein panischer Sage die Regeln gebrochen und ihn befreit.
In dieser Nacht waren sie weggelaufen. Sie hatten Sages gesamte Ersparnisse genommen und hatten nicht zurückgeblickt. Derek wusste, dass sein Vater die Polizei angerufen und gefleht hatte, dass sie seine Jungs nach Hause brachte, aber Derek war sich sicher, dass sich der Polizeichef bei der Suche nach ihnen keine allzu große Mühe gegeben hatte.
Sie waren in Oklahoma City gelandet und hatten sich als Tagelöhner verdingt, um über die Runden zu kommen. Zusammen mit einer Gruppe anderer Ausreißer hatten sie in einem überraschend netten Lagerhaus gewohnt und dort hatte Derek sein erstes selbst gemachtes Tattoo von einem Jungen namens Pepper bekommen, der die Nadel über der offenen Flamme eines Campingkochers sterilisiert hatte. Es war das einzige Tattoo, das Derek niemals überstechen lassen würde. Es zeigte eine kaum erkennbare, schiefe Hand auf dem mittleren Glied seines rechten Mittelfingers, die den Mittelfinger hob.
Jedes einzelne Tattoo, das darauf gefolgt war, war ein an seinen Dad gerichtetes Fick dich gewesen. Als er den Anruf bekommen hatte, dass sein Dad im Krankenhaus lag