Er hatte den Wunsch seiner Schwester sich anzupassen nie wirklich verstanden. Sie waren beide von gehörlosen Eltern in der Gehörlosengemeinschaft großgezogen worden, aber das hatte wohl damit zu tun, dass sie gern unter Leuten war. Sie hasste es, in Gespräche nicht einbezogen oder generell außen vor gelassen zu werden. Seine Eltern hatten ihm immer gesagt, dass er sich deswegen keine Sorgen machen sollte, dass sie ihren Weg schon finden würde. Deshalb versuchte er, sich nicht betrogen zu fühlen, als sie begann, ihr Leben größtenteils verbal zu leben, nur selten ihre Hörgeräte herausnahm und sich an Universitäten an der Westküste beworben hatte.
Wahrscheinlich wäre sie in L.A. geblieben und hätte sich mit den Leuten, die ihr ans Herz gewachsen waren, ein Leben aufgebaut, wenn ihre Eltern, ihre Tante und ihr Onkel nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen wären und ihnen den Blumenladen hinterlassen hätten. Er fragte sich, ob sie ihn dafür hasste, weil er sie gebeten hatte, ihm dabei zu helfen, den Laden wieder zum Laufen zu kriegen.
Er hätte es ihr nicht verdenken können. Es ärgerte ihn selbst, dass sie letzten Endes recht gehabt hatte, als sie sagte, dass er Hilfe von jemandem brauchen würde, der mit dem Großteil der Einwohner der Stadt kommunizieren konnte. Und er wusste es sehr zu schätzen, dass sie geblieben war, denn allein bei dem Gedanken, mit einem Fremden zusammenarbeiten zu müssen, drehte sich ihm der Magen um.
Er vertraute Menschen einfach nicht. Einmal hatte er sich auf jemanden eingelassen ‒ ein einziges Mal ‒, aber die Narbe, die er davongetragen hatte, hatte dafür gesorgt, dass er sich nicht traute, es wieder zu tun. Ama hielt ihm immer wieder vor, dass er sich so verschloss und es nicht einmal mehr versuchte, denn sie selbst hatte sich nie entmutigen lassen, nicht einmal, wenn man sie gedemütigt hatte.
Aber Basil war nicht so.
Er hatte Chad an der Universität kennengelernt. Chad arbeitete damals als Praktikant bei einem Senator in D.C., wohnte aber noch in der Nähe des Campus, denn er hatte dort eine günstige Wohnung zur Untermiete gefunden. Zu der Zeit war er regelmäßig in dem Coffeeshop zu Gast, in dem Basil gearbeitet hatte. Er war attraktiv, wie Basil auch heute noch zugeben musste, und hatte einen charismatischen Charme, den man nur schwer ignorieren konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Basil nie ein Auge auf hörende Männer geworfen, aber er erlebte, wie Chad sich mit Leichtigkeit in dem Laden zurechtfand, der größtenteils von Gehörlosen geführt wurde, und sich nicht beschwerte, dass man sich dort nicht auf ihn einstellte. Er hatte sogar nach und nach ein paar Gebärden aufgeschnappt.
Basil hatte auch bemerkt, wie Chad ihn beobachtete ‒ es war einfach offensichtlich, wie der Blick von Chads tiefblauen Augen ihm jedes Mal folgte, wenn er von der Theke zur Eismaschine und zur Gebäckvitrine ging. Und ihm entging ebenfalls nicht, dass Chad manchmal wartete, bis Basil an der Kasse war, bevor er etwas bestellte. Er war wie bezaubert gewesen, als Chad, nervös wie ein neugeborenes Fohlen, zum ersten Mal seine Hand gehoben und mit zitternden Fingern seinen Namen buchstabiert hatte.
Seine Freunde hatten ihn ermutigt und es hatte sie auch nicht abgeschreckt, dass Chad einer von denen war ‒ den Hörenden, die ihn außerhalb ihrer isolierten Gemeinschaft auf dem Campus wie einen Menschen zweiter Klasse behandelten. Chad gab sich Mühe, hatten sie zu ihm gesagt, und er war heiß. Außerdem war es offensichtlich, dass er an Basil interessiert war.
Also hatte Basil sorgfältig ›Geh mit mir aus‹ gebärdet und dabei die Worte mit den Lippen geformt, damit Chad ihn besser verstehen konnte. Er hatte auf Wolke sieben geschwebt, als die Antwort ›Ja‹ gelautet hatte.
Dann waren sie ein Paar geworden. Basil war jung und dumm gewesen, denn er fand es nicht schlimm, dass Chads Fähigkeiten in der Gebärdensprache niemals über die Grundzüge einer Bestellung im Coffeeshop hinausgingen. Oder dass er Basil drängte, besser im Lippenlesen zu werden und eine Sprachtherapie zu beginnen.
Basil wurde immer noch übel, wenn er daran dachte, dass er zwar die Therapie begonnen hatte, es aber eigentlich für falsch hielt, weshalb er es seinen Eltern und Amaranth verschwiegen hatte.
Er schlief schlecht, seine Noten sackten ab und er war unglücklich. Doch das spielte keine Rolle, denn sein Freund war heiß und stand auf ihn und er war etwas Besonderes. Er hatte eine Art an sich, Basil anzusehen, als wäre er der einzige Mensch im Raum, und das reichte, um einen Zwanzigjährigen um den Finger zu wickeln, der in Liebesangelegenheiten noch nie viel Glück gehabt hatte.
Aber es ging so langsam den Bach hinunter, dass Basil es erst an einem Abend bemerkte, als sie sich mit den anderen Praktikanten, mit denen Chad zusammenarbeitete, zu Bier und Pizza trafen. Basil hatte sich in der Sprachtherapie und beim Lippenlesen unheimlich große Mühe gegeben, trotzdem fiel es ihm schwer, deshalb blieb er für sich. Das war vielleicht auch besser so, denn dadurch fühlte Chad sich sicher, als er begann, vor seinen Freunden über Basil zu sprechen, als könnte dieser unmöglich verstehen, was vor sich ging.
»Leute, es ist zum Totlachen. Er versteht mich kaum. Ich muss reden wie ein Bekloppter, damit er checkt, dass er mir bloß ein Bier aus dem Kühlschrank holen soll. Aber das Beste ist, dass ich ihm allen möglichen Scheiß erzählen kann und er kapiert es nur, wenn ich etwas sage wie Baby, ich liebe dich.« Da hatte er sich Basil ein wenig zugewandt, aber es hatte keine Rolle mehr gespielt.
Basil hatte alles verstanden. Genau wie er das Lachen verstanden hatte, das so laut durch den Raum gehallt war, dass er mit den Handflächen an den Armlehnen des Sessels die Vibrationen spüren konnte. Ein Teil von ihm wünschte sich, dass er in der Sprachtherapie mehr Erfolg gehabt hätte, damit er Chad in seiner eigenen Sprache sagen konnte, was er ihn mal konnte, aber er entschied sich für eine allgemein verständliche Geste.
Das Bier, das er Chad über den Kopf geschüttet hatte, war nur ein Bonus, nachdem er ihm den Mittelfinger gezeigt hatte. Er brauchte keine gesprochenen Worte, um dem Kerl zu sagen: Fick dich. Ich will dich nie wiedersehen.
Er hatte lange Zeit gegrübelt, was schlimmer war: dass er fast zwei Jahre lang mit einem Haufen hörender Arschlöcher in einem Raum gesessen und nicht verstanden hatte, dass sie sich über ihn lustig machten, oder dass Chad nicht versucht hatte, ihn am Gehen zu hindern. Er war einfach in diesem Appartement voller Grasqualm zurückgeblieben, während Basil hinausgestürmt war und geweint hatte ‒ nur dieses eine Mal ‒, bevor er seine Sachen gepackt hatte und verschwunden war.
Er hatte auf der Couch eines Freundes geschlafen und jeden Tag sein Handy kontrolliert in der absurden Hoffnung, dass Chad versuchen würde, Kontakt aufzunehmen, um sich inständig zu entschuldigen. Nachgegeben hätte er nicht, er wollte bloß eine Bestätigung, dass Chad tatsächlich an ihm als Person interessiert gewesen war und ihn nicht nur als eine Art Experiment gesehen hatte, um herauszufinden, wozu er den tauben Spasti zu seiner eigenen Belustigung bringen konnte.
Dazu war es nie gekommen. Chad hatte nie versucht, ihn zu kontaktieren, und war danach auch nie wieder im Coffeeshop aufgetaucht. Vielleicht hatte er einfach Angst gehabt, krankenhausreif geschlagen zu werden ‒ wozu es wahrscheinlich gekommen wäre, also war es so wohl am besten.
Irgendwann hatte Basil versucht, sein Leben weiterzuleben, und einen Masterabschluss in Informatik gemacht. Danach hatte er als Online-Mitarbeiter bei einem technischen Kundendienst gearbeitet, obwohl er dafür vollkommen überqualifiziert war, doch niemand hatte einen Gehörlosen einstellen wollen.
Dann waren seine Eltern, seine Tante und sein Onkel gestorben und so war er unverhofft der Besitzer eines Blumenladens geworden, der demjenigen, in dem Amaranth und er aufgewachsen waren, so ähnlich war, dass es beinahe wehtat. Bis zum heutigen Tage verspürte er einen schmerzhaften Stich in seinem Inneren, wenn er den Kühlraum betrat und den Blumenduft wahrnahm, der immer im Haar seiner Mutter und an ihrem Rock gehaftet hatte, egal, wie oft sie sie gewaschen hatte. Aber das war immer noch besser, als sein ganzes Leben lang vor einem Computerbildschirm zu sitzen, ohne Hoffnung auf etwas Besseres.
Denn zumindest gehörte der Laden ihm. Es war harte Arbeit, die ihm einiges abverlangte, aber er musste sich nicht mit den Chads dieser Welt herumschlagen, denn Amaranth hatte zugestimmt, sein Puffer zu sein. Es war ihm ein wenig peinlich, sich deswegen auf seine große Schwester verlassen zu müssen,