Ich sah sie in ihrem Schlafzimmer in ihrer pompösen Wohnung am 5. Juni Plads vor mir, in ihrem Spitzennachthemd und mit Aida, ihrer Waldkatze, auf dem Schoß.
»Ja?« Ich streckte die Hand nach meinen Zigarettenpäckchen auf dem Schreibtisch aus. Schwere Schritte polterten durch das Treppenhaus – der Zeitungsbote, der soeben das Frederiksberg Bladet durch meinen Briefschlitz geworfen hatte.
»Du mußt unbedingt Ingrid kennenlernen«, sagte Kamma ohne weitere Einleitung. Ihre Stimme klang wirklich eindringlich. Ich runzelte die Stirn, was hatte sie wohl wieder ausgeheckt? »Ingrid?« fragte ich vorsichtig. »Wer ist das?«
»Sie ist Falknerin«, antwortete Kamma, als ob das alles erklärte.
»Ach«, ich starrte den Schreibtisch an, und sofort lenkte mich die grausame Realität meines Haushaltsplans ab, den ich gerade aufzustellen versucht hatte, als das Telefon klingelte. Ich schaute ganz schnell in eine andere Richtung.
»Ich bin ihr vor einigen Jahren in Schottland begegnet«, erzählte Kamma. »In der British School of Falconery.«
Meine Augenbrauen jagten nach oben. »Was in aller Welt hast du denn da gemacht?«
»Aber Kitchen«, sie lachte nachsichtig. »Natürlich war ich auf Falkenjagd.«
»Ach was!« Ich staunte. »Das wußte ich nicht... daß du auf Jagd gehst, meine ich.«
»Nicht auf Jagd«, korrigierte sie. »Auf Falkenjagd.«
»Falkenjagd«, wiederholte ich brav. Kamma schien in einer unberechenbaren Stimmung zu sein.
»Aber hör zu«, sie räusperte sich. »Die Sache ist so, ich will Ingrid am nächsten Donnerstag besuchen. Wir essen dann immer zusammen... Brote und kleine warme Gerichte... möchtest du nicht mitkommen? Monica ist auch dabei«, sie sagte das ganz leichthin.
Monica, eine Chilenin von Anfang Fünfzig, ist Kammas Haushaltshilfe, Friseuse und Spanischlehrerin.
»Doch... vielleicht«, antwortete ich zögernd.
»Ehrlich gesagt, du würdest es nicht bereuen«, sagte Kamma.
»Und... warte mal... doch, wirklich, jetzt kommt mir eine Idee«, sie unterbrach sich.
»Ja?« Ich schlug die Beine übereinander, ließ mich im Sessel zurücksinken und wartete. Kamma antwortete nicht gleich.
»Liebste«, sagte sie dann endlich. »Wenn du mitkommst, kannst du dann nicht auch gleich fahren? Ich meine... dann muß ich Carl nicht behelligen.« Das letzte kam so ganz en passant.
Ich lächelte schief.
Kammas guter Freund Carl war seinerzeit der Chauffeur ihres Mannes gewesen. Dieses Dienstverhältnis war zwar schon seit mehreren Jahren beendet, aber noch immer erwies er ihr kleine Dienste, die neben Gartenarbeit oft einen gewissen Bezug zu seinem alten Job als Chauffeur aufwiesen.
Es kam so, wie Kamma sich das gedacht hatte.
»God bless you«, sagte sie und legte auf.
Am Donnerstag früh fuhr ich dann zum 5. Juni Plads, um sie abzuholen.
Sie wartete schon vor dem Haus, mit einem großen Korb in der Hand und einem munteren Funkeln in den Augen.
»Guten Morgen, mein Herzchen.«
Ich gähnte. »Guten Morgen«, murmelte ich und betrachtete sie verschlafen. Sie trug eine praktische, ein wenig abgenutzte blaue Jacke, lange Hosen und bequeme Laufschuhe.
Sie stellte den Korb auf den Rücksitz. »Lachs, Schinken und Brie«, zählte sie mit breitem Lächeln auf.
»Das klingt wunderbar, aber...«, ich blickte sie besorgt an. »Ich habe nur Frikadellen...«
»Kitchen, es gibt von allem genug, mach dir da mal keine Sorgen...«, sie schnürte ihre Jacke zusammen, setzte sich neben mich und zog die Autotür ins Schloß. »Wir müssen zuerst nach Østerbro, Århusgade 22. Da wohnt Monica.«
»Alles klar«, ich nickte.
»Es muß phantastisch sein, den Führerschein zu haben«, Kamma steckte sich einen Zigarillo an und streckte die Hand nach dem Aschenbecher aus.
»Mm«, ich drehte und fuhr den C. F. Richsvej hinunter.
Ich hatte meinen Wagen, einen roten Renault, zwei Jahre zuvor in einem Waschpulverpreisausschreiben gewonnen und damals dann auch meinen Führerschein gemacht.
»Aber vielleicht bin ich ja zu alt«, Kamma richtete ihren fragenden Blick auf mich.
»Ja«, sagte ich ganz schnell. »Es wäre sicher keine gute Idee...«
Als wir vor der Århusgade 22 hielten, war weit und breit keine Monica zu sehen.
»Vielleicht verspätet sie sich«, meinte Kamma. »Sie hat ihre Mutter zu Besuch.«
»Lebt die in Dänemark?«
»Ja. Nach dem Tod ihres Mannes vor ungefähr einem Jahr ist sie nach Odense übergesiedelt. Dort wohnt Monicas Bruder.«
»Ach.« Ich legte die Arme auf das Lenkrad.
»Drück mal auf die Hupe«, schlug Kamma nun vor.
Ich schaute verstohlen auf die Uhr. Es war halb acht.
»Vielleicht sollten wir...«, setzte ich an. Aber in diesem Moment öffnete sich die Haustür, und Monicas verschlafenes Gesicht kam zum Vorschein.
»Guten Morgen, Liebste«, Kamma warf ihr eine Kußhand zu.
»Ach... ich habe verschlafen«, Monica seufzte und setzte sich auf den Rücksitz.
»Wirklich?« Kamma drückte ihren Zigarillo im Aschenbecher aus. »Das passiert dir doch sonst nie.«
»Mein Wecker braucht eine neue Batterie«, erklärte Monica, »und deshalb wollte ich mich telefonisch wecken lassen...«
Ich warf einen Blick in den Rückspiegel. Monica hatte einen Kamm aus der Tasche gezogen und fuhr sich nun damit durch die Haare.
»Aber was ist dann passiert?« Kamma zog am Sicherheitsgurt und wandte den Kopf. »Hat der Telefondienst nicht angerufen?«
»Doch, aber...« Monica zuckte mit den Schultern. »Als ich dann eine halbe Stunde zu spät aufwachte, saß meine Mutter schon in der Küche und trank Kaffee...«
Der Wagen vor uns bewegte sich keinen Zentimeter, obwohl die Ampel inzwischen auf Grün umgesprungen war. Ich hupte.
»Hatte deine Mutter den Hörer abgenommen?« fragte ich.
»Sieht so aus.«
»Vielleicht kann sie kein Dänisch?« Ich schloß den Aschenbecher und kurbelte das Fenster hoch.
»Doch, ein bißchen.«
Kamma hob die Augenbrauen. »Aber sie hat nicht verstanden, daß es ein Weckruf war?«
»Nein«, Monica lachte. »Sie war ein wenig verwirrt. ›Monica‹, sagte sie, ›das ist alles so seltsam. In diesem Land ruft die Uhr an und sagt, wie spät es ist...‹«
Ludmilla hatte ihre Beute verzehrt und schwebte nun abermals über unseren Häuptern.
Zwischen den Bäumen schrie eine Elster.
Ingrid öffnete ihre Tasche, fischte noch ein Stück hervor, band es auf die Fessel und stieß einen Pfiff aus.
Der blaue Himmel öffnete sich, und ein bleicher Sonnenstrahl traf die Strohdächer der weißgekalkten Gebäude. Der Falknerhof, der am Rand des Waldes Gribskov nicht weit vom Dorf Kirke Esbønderup liegt, ist mindestens hundertfünfzig Jahre alt. Ingrid hatte ihn vor zwölf Jahren gekauft und, sagt Kamma, Zeit und Geld in eine umfassende Sanierung gesteckt. Im einen Flügel hatte sie ihre Unterrichtslokale