Sehen wir näher zu.
Realisierter Mehrwert, der in England oder Deutschland nicht kapitalisiert werden kann und brachliegt, wird in Argentinien, Australien, Kapland oder Mesopotamien in Eisenbahnbau, Wasserwerke, Bergwerke usw. gesteckt. Maschinen, Material und dergleichen werden aus dem Ursprungslande des Kapitals bezogen und mit demselben Kapital bezahlt. Aber so wird es auch im Lande selbst unter kapitalistischer Produktion gemacht: Das Kapital muß selbst seine Produktionselemente kaufen, sich in ihnen verkörpern, ehe es sich betätigen kann. Freilich - der Genuß der Produkte bleibt dann dem Lande, während er im ersteren Falle den Ausländern überlassen wird. Aber Zweck der kapitalistischen Produktion ist nicht Genuß der Produkte, sondern Mehrwert, Akkumulation. Das müßige Kapital hatte im Lande keine Möglichkeit zu akkumulieren, da kein Bedarf nach zuschüssigem Produkt vorhanden war. Im Auslande aber, wo noch keine kapitalistische Produktion entwickelt ist, ist eine neue Nachfrage in nichtkapitalistischen Schichten entstanden, oder sie wird gewaltsam geschaffen. Gerade daß der "Genuß" der Produkte auf andere übertragen wird, ist für das Kapital entscheidend. Denn der Genuß der eigenen Klassen: Kapitalisten und Arbeiter, kommt für die Zwecke der Akkumulation nicht in Betracht. Der "Genuß" der Produkte muß von den neuen Konsumenten allerdings realisiert, bezahlt werden. Dazu müssen die neuen Konsumenten Geldmittel haben. Diese liefert ihnen zum Teil der gleichzeitig entstehende Warenaustausch. An den Eisenbahnbau wie an den Bergbau (Goldgruben usw.) knüpft sich unmittelbar ein reger Warenhandel. Dieser realisiert allmählich das im Eisenbahnbau oder Bergbau vorgeschossene Kapital mitsamt dem Mehrwert. Ob das in dieser Weise ins Ausland fließende Kapital auf eigene Faust als Aktienkapital sich ein Arbeitsfeld sucht oder durch die Vermittelung des fremden Staates, als äußere Anleihe aufgenommen, die neue Betätigung in Industrie oder Verkehr findet, ob im ersteren Falle die Aktiengründungen vielfach als Schwindelgründungen bald verkrachen oder im letzteren Falle der borgende Staat schließlich bankrott wird und das Kapital auf diese oder jene Weise den Eigentümern manchmal teilweise verlorengeht, dies alles ändert nichts an der Sache im ganzen. So geht vielfach das Einzelkapital auch im Ursprungslande bei Krisen verloren. Die Hauptsache ist, das akkumulierte Kapital des alten Landes findet im neuen eine neue Möglichkeit, Mehrwert zu erzeugen und ihn zu realisieren, d.h. die Akkumulation fortzusetzen. Die neuen Länder umfassen neue große Gebiete naturalwirtschaftlicher Verhältnisse, die in warenwirtschaftliche umgewandelt, oder warenwirtschaftlicher, die vom Kapital verdrängt werden. Der für die Anlage des Kapitals alter kapitalistischer Länder in jungen charakteristische Eisenbahnbau und Bergbau (namentlich Goldgruben) hat in hervorragendem Maße die Eigenschaft, in bis dahin naturalwirtschaftlichen Verhältnissen plötzlich einen regen Warenhandel hervorzurufen; beide sind bezeichnend in der Wirtschaftsgeschichte als Marksteine der raschen Auflösung alter ökonomischer Formationen, sozialer Krisen, des Aufkommens moderner Verhältnisse, d.h. vor allem der Warenwirtschaft und dann der Kapitalproduktion.
Die Rolle der äußeren Anleihen wie der Investierung des Kapitals in ausländischen Eisenbahn- und Minenaktien ist deshalb die beste kritische Illustration zu dem Marxschen Schema der Akkumulation. In diesen Fällen ist die erweiterte Reproduktion des Kapitals eine Kapitalisierung des früher realisierten Mehrwerts (sofern die Anleihen oder die ausländischen Aktien nicht von kleinbürgerlichen oder halbproletarischen Ersparnissen gedeckt werden). Der Moment, die Umstände und die Form, worin das jetzt ins Neuland fließende Kapital der alten Länder realisiert war, haben nichts gemein mit seinem gegenwärtigen Akkumulationsfeld. Das englische Kapital, das nach Argentinien in den Eisenbahnbau floß, mag selbst früher indisches in China realisiertes Opium gewesen sein. Ferner: Das englische Kapital, das in Argentinien Eisenbahnen baut, ist nicht nur in seiner reinen Wertgestalt, als Geldkapital, englischer Provenienz, sondern auch seine sachliche Gestalt: Eisen, Kohle, Maschinen usw., stammt aus England, d.h., auch die Gebrauchsform des Mehrwerts kommt hier in England von vornherein in der für Zwecke der Akkumulation geeigneten Gestalt zur Welt. Die Arbeitskraft, die eigentliche Gebrauchsgestalt des variablen Kapitals, ist meist fremd; es sind eingeborene Arbeitskräfte, die in den neuen Ländern vom Kapital der alten als neue Objekte der Ausbeutung unterworfen werden. Wir können jedoch der Reinheit der Untersuchung halber annehmen, selbst die Arbeitskräfte sind desselben Ursprungs wie das Kapital. In der Tat rufen z.B. neuentdeckte Goldgruben - namentlich in der ersten Zeit - massenhafte Einwanderung aus alten kapitalistischen Ländern hervor und werden in hohem Maße mit Arbeitskräften dieser Länder betrieben. Wir können also den Fall setzen, wo in einem neuen Lande Geldkapital, Produktionsmittel und Arbeitskräfte zugleich aus einem alten kapitalistischen Lande, sagen wir aus England, stammen. In England waren somit alle materiellen Voraussetzungen der Akkumulation: realisierter Mehrwert als Geldkapital, Mehrprodukt in produktiver Gestalt, endlich Reserven von Arbeitern vorhanden. Und doch konnte die Akkumulation in England nicht vonstatten gehen: England und seine bisherigen Abnehmer brauchten keine Eisenbahnen und keine Erweiterung der Industrie. Erst das Auftreten eines neuen Gebietes mit großen Strecken nichtkapitalistischer Kultur schuf den erweiterten Konsumtionskreis für das Kapital und ermöglichte ihm die erweiterte Reproduktion, d.h. die Akkumulation.
Wer sind nun eigentlich diese neuen Konsumenten? Wer zahlt in letzter Linie die äußere Anleihe und realisiert den Mehrwert der mit ihr gegründeten Kapitalunternehmungen? In klassischer Weise beantwortet diese Frage die Geschichte der internationalen Anleihe in Ägypten.
Drei Reihen von Tatsachen, die sich ineinander verschlingen, charakterisieren die innere Geschichte Ägyptens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: moderne Kapitalunternehmungen größten Stils, ein lawinenartiges Anwachsen der Staatsschuld und der Zusammenbruch der Bauernwirtschaft. In Ägypten bestand bis in die neueste Zeit Fronarbeit und die ungenierteste Gewaltpolitik des Wali und nachher des Khediven in bezug auf die Grundbesitzverhältnisse. Aber gerade diese primitiven Verhältnisse boten einen unvergleichlich üppigen Boden für die Operationen des europäischen Kapitals. Ökonomisch konnte es sich vorerst nur darum handeln, Bedingungen für die Geldwirtschaft zu schaffen. Diese wurden denn auch mit direkten Gewaltmitteln des Staates geschaffen. Mehemed Ali, der Schöpfer des modernen Ägyptens, wandte hierin bis in die 30er Jahre eine Methode von patriarchalischer Einfachheit an: Er "kaufte" den Fellachen jedes Jahr von Staats wegen ihre gesamte Ernte ab, um ihnen davon nachher zu erhöhten Preisen das Minimum zu verkaufen, das zu ihrer Existenz und zur Aussaat notwendig war. Ferner verschrieb er Baumwolle aus Ostindien, Zuckerrohr aus Amerika, Indigo und Pfeffer und schrieb den Fellachen von Staats wegen vor, was und wieviel sie von jedem zu pflanzen hätten, wobei Baumwolle und Indigo wiederum als Monopol der Regierung erklärt und nur an sie verkauft, also auch von ihr wiederverkauft werden durften. Durch solche Methoden wurde der Warenhandel in Ägypten eingeführt. Freilich tat Mehemed Ali auch für die Hebung der Produktivität der Arbeit nicht wenig. Er ließ alte Kanäle ausheben, Brunnen graben, vor allem begann er mit dem grandiosen Nilstauwerk bei Kaliub, das die Serie der großen Kapitalunternehmungen in Ägypten eröffnete. Diese erstrecken sich später auf vier große Gebiete: Bewässerungsanlagen, unter denen das Werk bei Kaliub, das von 1845 bis 1853 gebaut wurde und außer der unbezahlten Fronarbeit 50 Millionen Mark verschlungen hatte - um sich übrigens zunächst als unbrauchbar zu erweisen -, den ersten Platz einnimmt; ferner Verkehrsstraßen, unter denen der Suezkanal die wichtigste und für die Schicksale Ägyptens fatalste Unternehmung war; sodann Baumwollbau und Zuckerproduktion. Mit dem Bau des Suezkanals hatte Ägypten bereits den Kopf in die Schlinge des europäischen Kapitals gesteckt, aus der es ihn nicht mehr herausziehen sollte. Den Anfang machte das französische Kapital, dem das englische alsbald auf dem Fuße folgte; der Konkurrenzkampf beider spielt durch die ganzen inneren Wirren in Ägypten während der folgenden 20 Jahre. Die Operationen des französischen Kapitals, das sowohl das große Nilstauwerk in seiner Unbrauchbarkeit wie den Suezkanal ausführte, waren vielleicht die eigenartigsten Muster der europäischen Kapitalakkumulation auf Kosten primitiver Verhältnisse. Für die Wohltat des Kanaldurchstichs, der Ägypten den europäisch-asiatischen Handel an der Nase vorbei ableiten und so den eigenen Anteil Ägyptens daran ganz empfindlich treffen sollte, verpflichtete sich das Land erstens zur Lieferung der Gratisarbeit von 20.000 Fronbauern auf Jahre hinaus, zweitens zur Übernahme von 70 Millionen Mark Aktien gleich 40 Prozent des Gesamtkapitals der Suezkompanie. Diese 70 Millionen wurden zur Grundlage der riesigen Staatsschuld Ägyptens, die zwanzig Jahre später die militärische