Schon die türkische Herrschaft, die sich im 16. Jahrhundert in Algerien etablierte, hatte ernste Eingriffe in diese sozialen Verhältnisse gemacht. Freilich war es nur eine später von den Franzosen erfundene Fabel, daß die Türken sämtlichen Grund und Boden für den Fiskus konfisziert hätten. Diese wilde Phantasie, die nur den Europäern einfallen konnte, befand sich im Widerspruch mit der ganzen ökonomischen Grundlage des Islams und seiner Bekenner. Im Gegenteil, die Grundbesitzverhältnisse der Dorfgemeinden und der Großfamilien wurden von den Türken im allgemeinen nicht angetastet. Nur ein großer Teil unbebauter Ländereien wurde von ihnen als Staatsdomäne den Geschlechtern gestohlen und unter den türkischen Lokalverwaltern in Beyliks verwandelt, die zum Teil direkt von Staats wegen mit eingeborenen Arbeitskräften bewirtschaftet, zum Teil gegen Zins oder Naturalleistungen in Pacht gegeben wurden. Daneben benutzten die Türken jede Meuterei der unterworfenen Geschlechter und jede Verwirrung im Lande, um durch umfassende Landkonfiskationen die fiskalischen Besitzungen zu vergrößern und darauf Militärkolonien zu gründen oder die konfiszierten Guter öffentlich zu versteigern, wobei sie meist in die Hände von türkischen und anderen Wucherern gerieten. Um den Konfiskationen und dem Steuerdruck zu entgehen, begaben sich viele Bauern, genau wie in Deutschland im Mittelalter, unter den Schutz der Kirche, die auf diese Weise zum obersten Grundherrn über ansehnliche Strecken Landes wurde. Schließlich stellten die Besitzverhältnisse Algeriens nach all diesen wechselvollen Geschicken zur Zeit der französischen Eroberung das folgende Bild dar: 1.500.000 Hektar Land umfaßten die Domänen, 3.000.000 Hektar unbenutztes Land waren gleichfalls dem Staate unterstellt als "Gemeineigentum aller Rechtgläubigen" (Bled-el-Islam); das Privateigentum umfaßte 3.000.000 Hektar, die sich noch von römischen Zeiten her im Besitze der Berber befanden, und 1.500.000 Hektar, die unter der türkischen Herrschaft in Privathände übergegangen waren. In ungeteiltem Gemeineigentum der arabischen Geschlechter verblieben danach nur noch 5.000.000 Hektar Land. Was die Sahara betrifft, so befanden sich darin zirka 3.000.000 Hektar brauchbaren Landes im Bereiche der Oasen teils in ungeteiltem Großfamilienbesitz, teils in Privatbesitz. Die übrigen 23.000.000 Hektar stellten meist Ödland dar.
Die Franzosen begannen, nachdem sie Algerien in ihre Kolonie verwandelt hatten, mit großem Tamtam ihr Werk der Zivilisierung. War doch Algerien, nachdem es anfangs des 18. Jahrhunderts die Abhängigkeit von der Türkei abgestreift hatte, ein freies Seeräubernest geworden, welches das Mittelmeer unsicher machte und Sklavenhandel mit Christen trieb. Gegen diese Ruchlosigkeiten der Mohammedaner erklärten namentlich Spanien und die nordamerikanische Union, die selbst im Sklavenhandel zu jener Zeit Erkleckliches leisteten, unerbittlichen Krieg. Auch während der Großen Französischen Revolution wurde ein Kreuzzug gegen die Anarchie in Algerien proklamiert. Die Unterwerfung Algeriens durch Frankreich war also unter den Losungen der Bekämpfung der Sklaverei und der Einführung geordneter, zivilisierter Zustände durchgeführt. Die Praxis sollte bald zeigen, was dahinter steckte. In den vierzig Jahren, die seit der Unterwerfung Algeriens verflossen waren, hat bekanntlich kein europäischer Staat so häufigen Wechsel des politischen Systems durchgemacht wie Frankreich. Auf die Restauration war die Julirevolution und das Bürgerkönigtum gefolgt, auf diese die Februarrevolution, die Zweite Republik, das Zweite Kaiserreich, endlich das Debakel des Jahres 1870 und die Dritte Republik. Adel, Hochfinanz, Kleinbürgertum, die breite Schicht der Mittelbourgeoisie lösten einander in der politischen Herrschaft ab. Aber ein ruhender Pol in dieser Erscheinungen Flucht war die Politik Frankreichs in Algerien, die von Anfang bis Ende auf ein und dasselbe Ziel gerichtet war und am Saum der afrikanischen Wüste am besten verriet, daß sich sämtliche Staatsumwälzungen Frankreichs im 19. Jahrhundert um ein und dasselbe Grundinteresse: um die Herrschaft der kapitalistischen Bourgeoisie und ihrer Eigentumsform, drehten.
"Die Ihrem Studium unterbreitete Gesetzesvorlage", sagte der Abgeordnete Humbert am 30. Juni 1873 in der Sitzung der französischen Nationalversammlung als Berichterstatter der Kommission zur Ordnung der Agrarverhältnisse in Algerien, "ist nicht mehr als die Krönung des Gebäudes, dessen Fundament durch eine ganze Reihe von Ordonnanzen, Dekreten, Gesetzen und Senatuskonsulten gelegt war, die alle zusammen und jedes insbesondere ein und dasselbe Ziel verfolgen: die Etablierung des Privateigentums bei den Arabern." Die planmäßige, bewußte Vernichtung und Aufteilung des Gemeineigentums, das war der unverrückbare Pol, nach dem sich der Kompaß der französischen Kolonialpolitik ungeachtet aller Stürme im inneren Staatsleben während eines halben Jahrhunderts richtete, und zwar aus dem folgenden klar erkannten Doppelinteresse. Die Vernichtung des Gemeineigentums sollte vor allem die Macht der arabischen Geschlechter als sozialer Verbände zertrümmern und damit ihren hartnäckigen Widerstand gegen das französische Joch brechen, der sich trotz aller Militärübermacht Frankreichs in unaufhörlichen Rebellionen der Stämme kundtat und einen unaufhörlichen Kriegszustand in der Kolonie zur Folge hatte.210 Ferner war der Ruin des Gemeineigentums eine Vorbedingung, um in den wirtschaftlichen Genuß des eroberten Landes zu treten, d.h. den seit einem Jahrtausend von den Arabern besessenen Grund und Boden ihren Händen zu entreißen und in die Hände französischer Kapitalisten zu bringen. Zu diesem Behufe diente vor allem dieselbe uns schon bekannte Fiktion, wonach der gesamte Grund und Boden nach muselmännischem Gesetz Eigentum des jeweiligen Herrschers wäre. Genau wie die Engländer in Britisch-Indien erklärten die Gouverneure Louis-Philippes in Algerien die Existenz eines Gemeineigentums ganzer Geschlechter für eine "Unmöglichkeit" Auf Grund dieser Fiktion wurden die meisten unbebauten Ländereien, namentlich aber die Almenden, Wälder und Wiesen für Staatseigentum erklärt und zu Kolonisationszwecken verwendet. Es kam ein ganzes System der Ansiedelungen, die sog. Cantonnements, auf, bei dem inmitten der Geschlechterländereien französische Kolonisten gesetzt, die Stämme selbst aber auf einem minimalen Gebiet zusammengepfercht werden sollten. Durch Erlasse vom Jahre 1830, 1831,1840, 1844, 1845, 1846 wurden diese Diebstähle an arabischen Geschlechterländereien "gesetzlich" begründet. Dieses Ansiedelungssystem führte aber in Wirklichkeit gar nicht zur Kolonisation, es hat bloß zügellose Spekulation und Wucher großgezogen. Die Araber verstanden in den meisten Fällen, die ihnen weggenommenen Ländereien zurückzukaufen, wobei sie freilich tief in Schulden gerieten. Der französische Steuerdruck wirkte nach derselben Richtung. Namentlich aber hat das Gesetz vom 16. Juni 1851, das alle Forsten zum Staatseigentum erklärte und so 2,4 Millionen Hektar halb Weide, halb Gestrüpp den Eingeborenen stahl, der Viehzucht die Existenzbasis entzogen. Unter dem Platzregen all dieser Gesetze, Ordonnanzen und Maßnahmen entstand in den Eigentumsverhältnissen des Landes eine unbeschreibliche Verwirrung. Zur Ausnutzung der herrschenden fieberhaften Bodenspekulation und in der Hoffnung auf baldige Zurückgewinnung des Bodens veräußerten viele Eingeborene ihre Grundstücke an Franzosen, wobei sie häufig an zwei und drei Käufer zugleich dasselbe Grundstück verkauften, das sich obendrein gar nicht als ihr Eigentum, sondern als unveräußerliches Geschlechtereigentum herausstellte. So glaubte eine Spekulantengesellschaft aus Rouen 20.000 Hektar gekauft zu haben, während sie im Resultat nur 1.370 Hektar strittigen Gebietes ihr eigen nennen durfte. In einem anderen Falle stellte sich ein verkauftes Gebiet von 1.230 Hektar nach der Aufteilung als 2 Hektar aus. Es folgte eine unendliche Reihe von Prozessen, wobei die französischen Gerichte prinzipiell alle Aufteilungen und Ansprüche der Käufer unterstützten. Unsicherheit der Verhältnisse, Spekulation, Wucher und Anarchie wurden allgemein. Aber der Plan der französischen Regierung, sich mitten in der arabischen Bevölkerung eine starke Stütze in einer französischen Kolonistenmasse zu schaffen, hat elend Schiffbruch gelitten. Deshalb nimmt die französische Politik unter dem Zweiten Kaiserreich eine andere Wendung: Die Regierung, die sich nach 30 Jahren hartnäckigen Leugnens