Ferner wurde die Steuerlast so rücksichtslos erhöht, daß sie fast die gesamte Frucht der Arbeit der Bevölkerung verschlang. Es kam so weit, daß (nach dem offiziellen Zeugnis der englischen Steuerbehörde aus dem Jahre 1854) in den Distrikten Delhi und Allahabad die Bauern es vorteilhaft fanden, ihre Landanteile lediglich gegen die als Steuer auf sie entfallende Summe zu verpachten und zu verpfänden. Auf dem Boden dieses Steuersystems zog der Wucher in das indische Dorf ein und setzte sich in ihm fest, wie ein Krebs von innen die soziale Organisation zerfressend.203 Zur Beschleunigung des Prozesses führten die Engländer ein Gesetz ein, das allen Traditionen und Rechtsbegriffen der Dorfgemeinde ins Gesicht schlug: die zwangsweise Veräußerlichkeit der Dorffelder wegen Steuerrückständen. Der alte Geschlechtsverband suchte sich dagegen vergeblich durch das Vorkaufsrecht der Gesamtmark und der verwandten Marken zu schützen. Die Auflösung war im vollen Gange. Zwangsversteigerungen, Austritte einzelner aus der Mark, Verschuldung und Enteignung der Bauern waren an der Tagesordnung.
Die Engländer suchten sich dabei, wie es ihre Taktik in den Kolonien stets war, den Anschein zu geben, als sei ihre Gewaltpolitik, die völlige Unsicherheit der Grundbesitzverhältnisse und den Zusammenbruch der Bauernwirtschaft der Hindus herbeigeführt hatte, gerade im Interesse des Bauerntums und zu seinem Schutze gegen die eingeborenen Tyrannen und Ausbeuter notwendig gewesen.204 Erst schuf England künstlich eine Landaristokratie in Indien auf Kosten uralter Eigentumsrechte der Bauerngemeinden, um hinterdrein die Bauern gegen diese Bedrücker zu schützen und das "widerrechtlich usurpierte Land" in die Hände englischer Kapitalisten zu bringen.
So entstand in Indien in kurzer Zeit der Großgrundbesitz, während die Bauern auf enormen Strecken in eine verarmte, proletarisierte Masse kleiner Pächter mit kurzen Pachtfristen verwandelt wurden.
Endlich kam noch in einem markanten Umstand die spezifische Kapitalmethode der Kolonisation zum Ausdruck. Die Engländer waren die ersten Eroberer Indiens, die eine rohe Gleichgültigkeit für die öffentlichen Kulturwerke wirtschaftlichen Charakters mitbrachten. Araber, Afghanen wie Mongolen leiteten und unterstützten in Indien großartige Kanalanlagen, durchzogen das Land mit Straßen, überspannten Flüsse mit Brücken, ließen wasserspendende Brunnen graben. Der Ahne der Mongolendynastie in Indien, Timur oder Tamerlan, trug Sorge für die Bodenkultur, Bewässerung, Sicherheit der Wege und Verpflegung der Reisenden.205 "Die primitiven Radschas Indiens, die afghanischen oder mongolischen Eroberer, zuweilen grausam für die Individuen, bezeichneten wenigstens ihre Herrschaft durch jene wunderbaren Konstruktionen, die man heute auf jedem Schritt findet und die das Werk einer Rasse von Riesen zu sein scheinen ... Die Kompanie (die englische Ostindische Kompanie, die bis 1858 in Indien herrschte - R. L.) hat nicht eine Quelle geöffnet, nicht einen Brunnen gegraben, nicht einen Kanal gebaut, nicht eine Brücke zum Nutzen der Inder errichtet."206
Ein anderer Zeuge, der Engländer James Wilson, sagt: "In der Provinz von Madras wird jedermann unwillkürlich durch die grandiosen altertümlichen Bewässerungsanlagen frappiert, deren Spuren sich bis auf unsere Zeit erhalten haben. Stausysteme die die Flüsse stauten, bildeten ganze Seen, aus denen Kanäle auf 60 und 70 Meilen im Umkreis Wasser verbreiteten. Auf großen Flüssen gab es solcher Schleusen 30-40 Stück ... Das Regenwasser, das von den Bergen hinabfloß, wurde in besonders zu diesem Behufe gebauten Teichen gesammelt, von denen viele bis jetzt 15 bis 25 Meilen im Umkreis haben. Diese gigantischen Konstruktionen waren fast alle vor dem Jahre 1750 vollendet. In der Epoche der Kriege der Kompanie mit den mongolischen Herrschern und, wir müssen hinzufügen, während der ganzen Periode unserer Herrschaft in Indien sind sie in großen Verfall geraten."207
Ganz natürlich: Für das englische Kapital kam es nicht darauf an, die indischen Gemeinwesen lebensfähig zu erhalten und wirtschaftlich zu stützen, sondern im Gegenteil, sie zu zerstören, ihnen die Produktivkräfte zu entreißen. Die rasch zugreifende ungestüme Gier der Akkumulation, die ihrem ganzen Wesen nach von "Konjunkturen" lebt und nicht an den morgigen Tag zu denken imstande ist, kann den Wert der alten wirtschaftlichen Kulturwerke von weitsichtigerem Standpunkt nicht einschätzen. In Ägypten zerbrachen sich kürzlich die englischen Ingenieure, als sie für die Zwecke des Kapitals am Nil Riesenstauwerke errichten sollten, den Kopf, um die Spuren jener antiken Kanalsysteme aufzudecken, die sie in ihren indischen Provinzen mit der stupiden Sorglosigkeit von Botokuden hatten gänzlich verfallen lassen. Die Engländer haben das edle Werk ihrer Hände erst einigermaßen zu würdigen gelernt, als die furchtbare Hungersnot, die im Distrikt Orissa allein in einem Jahre eine Million Menschenleben dahingerafft hatte, im Jahre 1867 eine Untersuchung über die Ursachen der Notlage vom englischen Parlament erzwungen hat. Gegenwärtig sucht die englische Regierung die Bauern auf administrativem Wege vor dem Wucher zu retten. Die Punjab Alienation Act (1900) verbietet die Veräußerung oder Belastung des Bauernlandes zugunsten von Angehörigen anderer Kasten als die landbautreibende und macht Ausnahmen im Einzelfalle von der Genehmigung des Steuereinnehmers abhängig.208 Nachdem sie die schützenden Bande der uralten sozialen Verbände der Hindus planmäßig zerrissen und einen Wucher großgezogen haben, bei dem ein Zinsfuß von 15 Prozent eine gewöhnliche Erscheinung ist, stellen die Engländer den ruinierten und verelendeten indischen Bauer unter die Vormundschaft des Fiskus und seiner Beamten, d.h. unter den "Schutz" seiner unmittelbaren Blutsauger.
Neben dem Martyrium Britisch-Indiens beansprucht in der kapitalistischen Kolonialwirtschaft die Geschichte der französischen Politik in Algerien einen Ehrenplatz. Als die Franzosen Algerien eroberten, herrschten unter der Masse der arabisch-kabylischen Bevölkerung die uralten sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen, die sich trotz der langen und bewegten Geschichte des Landes bis ins 19. Jahrhundert, ja zum Teil bis heute erhalten haben.
Mochte in den Städten, unter den Mauren und Juden, unter Kaufleuten, Handwerkern und Wucherern Privateigentum herrschen und auf dem flachen Lande bereits große Strecken von der türkischen Vasallenherrschaft her als staatliche Domänen usurpiert sein, immerhin gehörte noch fast die Hälfte des benutzten Landes in ungeteiltem Eigentum den arabisch-kabylischen Stämmen, und hier herrschten noch uralte, patriarchalische Sitten. Dasselbe Nomadenleben, nur dem oberflächlichen Blick unstet und regellos, in Wirklichkeit streng geregelt und höchst eintönig, führte wie seit jeher noch im 19. Jahrhundert viele arabische Geschlechter mit Männern, Weibern und Kindern, mit Herden und Zelten jeden Sommer an den von Meereswinden angefächelten kühleren Küstenteil Tell und jeden Winter wieder in die schützende Wärme der Wüste zurück. Jeder Stamm und jedes Geschlecht hatte seine bestimmten Wanderungsstrecken und bestimmte Sommer- und Winterstationen, wo sie ihre Zelte aufschlugen. Die ackerbautreibenden Araber besaßen das Land gleichfalls vielfach noch im Gemeineigentum der Geschlechter. Und ebenso patriarchalisch nach althergebrachten Regeln lebte die kabylische Großfamilie unter der Leitung ihrer gewählten Oberhäupter.
Die Hauswirtschaft dieses großen Familienkreises war ungeteilt von dem ältesten weiblichen Mitglied geleitet, jedoch gleichfalls auf Grund der Wahl der Familie, oder aber von den Frauen der Reihe nach. Die kabylische Großfamilie, die in dieser Organisation am Saum der afrikanischen Wüste ein eigentümliches Seitenstück zu der berühmten südslawischen "Zadruga" darbot, war Eigentümerin nicht bloß des Grund und Bodens, sondern auch aller Werkzeuge, Waffen und Gelder, die zum Betrieb des Berufs