Glossin suchte sich der Erscheinung zu entziehen. Ich muß die Augen aufmachen, dann wird alles verschwinden.
Mit unendlicher Mühe versuchte er die Lider zu heben, glaubte, daß es ihm gelungen sei. Er empfing einen Eindruck des Raumes, der Pfeiler und Fenster. Aber die Gestalt Gerhard Bursfelds verschwand nicht. Sie wurde nur undeutlicher, halb durchsichtig, so daß die Möbel des Raumes hinter der Figur wie durch einen Schleier zu erkennen waren.
Und dann eine zweite Gestalt neben der ersten. Die Gesichtszüge bis auf den Bart die gleichen. Die Augen dieselben. Fragend und anklagend.
Silvester Bursfeld, so wie ihn Dr. Glossin das letztemal sah, als R. F. c. 2 im Feuer des Strahlers schmolz.
Die Gestalt des Sohnes neben der des Vaters. Deutlicher, weniger durchsichtig. Der Vater an ein altes, schon verblaßtes Bild gemahnend, der Sohn in den frischen Farben des Lebens. Sich umschlingend, standen die beiden Gestalten vor ihm.
Glossin fühlte, wie sein Leben entfloh. Er machte keine Anstrengung, es zu halten. Er sehnte sich fort von allen quälenden Bildern und Erinnerungen in ein Land des Vergessens, des Nichtwissens.
Die beiden Gestalten blieben. Eine dritte trat hinzu. Die braune Figur eines Inders. In dem dunklen Antlitz standen groß und strahlend die Augen, ruhten mit bannender Gewalt auf dem Sterbenden.
Nun war es, als ob Atma, der Inder, alle Gedanken Glossins mitfühlte, als ob beide Gehirne zu einem verschmolzen.
Stärker wurde die Sehnsucht des Sterbenden nach wunschloser Ruhe.
»Du suchst das Nirwana. Du bist ihm fern.«
Kein Wort war im Raum gefallen, und doch hatte Dr. Glossin den deutlichen Eindruck der Worte:
»Die Stunde ist gekommen.«
Laut sprach Atma die Worte. Das stockende Blut begann wieder zu fließen, und mit dem roten Strom entwich das Leben. Ein Seufzer, ein letztes Zucken. Glossin war in das dunkle Land gegangen, aus dem es keine Wiederkehr gibt.
Die Sonne war unter den Horizont gegangen, und die Schatten beginnender Dämmerung breiteten sich über die Straßen und Häuser Düsseldorfs aus. In dem alten, bequemen Lehnstuhl am Fenster saß der alte Termölen, die lange Pfeife zwischen den Lippen, und stieß in langen Pausen kräuselnde Wolken bläulichen Rauches in den Raum. Frau Luise ging ordnend im Zimmer hin und her.
Jane Bursfeld hatte ihren Platz auf der breiten Bank, die den mächtigen Delfter Ofen umzog.
Das ungewisse Zwielicht verbot das Lesen, und Jane ließ ihr Buch sinken. Sie saß und hörte auf die Worte, die der alte Termölen zwischen den Dampfwolken von den Lippen fallen ließ.
»Das Rad dreht sich, Jane. Sprach nicht dein Freund, der Inder, immer davon?«
Jane blickte sinnend auf.
»Er sprach davon. Vom Rad des Lebens, auf das wir alle gebunden sind.«
»So mein ich es nicht, Jane. Ich meine das Rad der Weltgeschichte, das die Völker herauf- und herunterbringt. … Heute ist die Berliner Konferenz zu Ende gegangen … Wie weit muß ich zurückdenken … bis in meine früheste Kindheit … Meine Eltern sprachen von Bismarck und vom alten Kaiser … später hörte ich von der Berliner Konferenz, die unter dem Vorsitze des Fürsten Bismarck getagt hatte … Anno 1879 … Die Staatsmänner Europas kamen in Berlin zusammen, berieten im Herzen Europas über das Schicksal ihres Erdteiles … Jetzt war wieder eine Konferenz in Berlin, Sechsundsiebzig Jahre später. Was ist in den sechsundsiebzig Jahren alles passiert.«
Andreas Termölen machte sich mit seiner Pfeife zu schaffen. Jane nahm den Faden seiner Rede auf.
»Lord Horace war nicht in froher Laune, als er vor vierzehn Tagen mit mir nach Deutschland fuhr. Er war ernster als ich ihn sonst kannte.«
»Das glaube ich dir aufs Wort, Hannchen. Die Engländer haben keinen Grund, fröhlich zu sein. Sie dachten, was Englisch spricht, gehört auch zum englischen Weltreich. Australien, Afrika, Amerika … alle Weltteile wurden englisch, und sie dachten, das würde in aller Ewigkeit so bleiben. Sie hatten das Schicksal von Spanien und Portugal vergessen. Glaubten, die gemeinsame Sprache und Sitte müßten die Kolonien ewig an London binden.
Jetzt ist das ganz anders gekommen. Die Kolonien verlangen ihre volle Selbständigkeit, und das Mutterland hat sie nicht halten können.
Die Welt gehört den English speakers! Das Wort kam wohl so um 1900 auf und schien mit jedem folgenden Jahrzehnt immer mehr Wahrheit zu werden …«
Die Gedanken des alten Termölen flogen die Jahrzehnte zurück.
»1904 … wir waren damals im ersten Jahr verheiratet … da ging der Kampf in Ostasien los. Zur höheren Ehre Englands schlug der Japaner den Russen.
Und dann kamen die Balkankriege … und dann kam der große Weltbrand Anno 14 bis 18 …«
Es war immer dämmriger in dem Raum geworden. Schon warfen die Straßenlaternen ihre Lichtreflexe gegen die Zimmerdecke. Schweigend saßen die beiden Frauen und lauschten den Worten des alten Mannes, der abgerissen die Erinnerungen seiner achtzig Jahre vorüberziehen ließ.
»… und da waren wir ganz unten. Man wußte in Deutschland nichts mehr von Bismarck und seinem Vermächtnis. Die anderen im Osten und Westen machten mit uns, was sie wollten, solange wir es uns gefallen ließen … gefallen lassen mußten … Europa war krank, weil sein Herz krank war. Die Welt gehörte den English speakers …
Und dann kam Rußland wieder hoch …
Und dann ging es im fernen Osten los. Der Japs überrannte den Amerikaner …
Und dann kam die amerikanische Revolution … und dann kam Cyrus Stonard …
Und dann kam der Englisch-Amerikanische Krieg … und dann kam die Macht … Die geheimnisvolle Macht. … Wie ein Komet glänzte sie plötzlich auf …«
Verhaltenes Schluchzen unterbrach das Selbstgespräch des alten Termölen. Es war Jane, die, von der Erinnerung an ihr kurzes Glück überwältigt, die Tränen nicht zurückhalten konnte.
»Silvester … Erik Truwor … Soma Atma … Wo sind sie? … Wo sind sie geblieben? Silvester ist tot, mir auf immer entrissen … Erik Truwor ging in Sturm und Brand zugrunde … Die Macht ist verschwunden, wie sie kam …«
Der alte Termölen antwortete:
»Verschwunden … vielleicht … verloren …? Es waren drei … drei Träger der Macht. Zwei sind tot. Der dritte, der Inder, lebt noch …«
»Ja! Einer von den dreien blieb übrig.« Jane sagte es. »Soma Atma blieb am Leben, während Silvester sterben mußte … Soma Atma. Warum … warum …?«
»Weil sein Geschick noch nicht erfüllt ist …«
Eine andere Stimme sprach die Worte, Jane wohlvertraut.
»Atma! … Soma Atma, bist du hier?«
Jane richtete sich auf, blickte gegen die Tür und meinte im letzten Dämmerschein die dunkle Gestalt Atmas vor sich zu sehen.
»Atma, du?«
»Ich bin hier, Jane. Ich bin bei dir. Mein Schicksal ist noch nicht erfüllt. Ich muß dir zur Seite stehen, bis der Erbe Silvesters sein Schicksal selber formt. Die Macht ist nicht verloren. Nur verwahrt und verborgen, bis der kommt, der mit reinem Herzen und mit reinen Händen nach ihr greift.«
Jane hörte die Stimme, fühlte, wie eine dunkle Hand sanft über ihren Scheitel strich, wie irgend etwas leise in ihren Schoß fiel. Sah die Gestalt Atmas nach der Tür zu lautlos verschwinden, wie sie gekommen.
Sie blickte um sich. Da saß der alte Termölen, wie er noch eben gesessen. Auf die dämmrige Straße schauend, auf der sich die ersten Lichter entzündeten. Da schaffte die alte Frau