Immer noch berieten die in Europa, und als sie endlich mit ihren Beratungen fertig waren, da stand schon der Feind an den Pyrenäenpässen und sperrte der Hilfe jeden Weg. Der Guerillakrieg in den Bergen! Gewiß, unser stolzes Volk wollte sich nicht widerstandslos ergeben. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Was früher einmal möglich war, dem machten die maurischen Flugzeuggeschwader bald den Garaus.«
»Mein lieber, alter Freund, wir lasen davon in den europäischen Zeitungen. Lasen zwischen den Zeilen, daß Europa sich scheute, den Kampf bis aufs Messer mit der gewaltig gewachsenen maurischen Macht aufzunehmen.«
»Mit der maurischen Macht? Das war’s nicht allein, Senor Eisenecker. Sie fürchteten… sie wußten in Europa, daß die islamitischen Reiche verbündet waren. Sie wußten, daß sie gleichzeitig Nordafrika und einen Teil Asiens gegen sich haben würden. Darum wich Europa vor der drohenden Geste Abdurrhamans zurück. Darum liegt unser Vaterland heut noch in Knechtschaft. Eine Schmach für uns, eine Schmach für Europa.«
Der Oberst schwieg. Eisenecker blickte sinnend auf sein Glas, in dem ein verlorener Sonnenstrahl sich blutrot brach. Seine Augen hingen an dem Purpurschein, als hätte er eine Vision. Langsam und stockend begann er zu sprechen.
»Es wird nicht so bleiben, Don Antonio. Ich sehe… ich sehe den Tag, an dem die Massen wieder nach Süden zurückfluten. Einen Tag, an dem die maurische Herrschaft dahinschmilzt wie Märzenschnee. Einen Tag, an dem die Sonne Spaniens wieder hell leuchtet… auf den Tag, Don Antonio!«
Er hob sein Glas und trank dem Freund zu. Der tat Bescheid.
»Ich trinke mit! Mag der Tag kommen. Bald kommen, daß wir ihn noch erleben.«
»Der Tag wird kommen, Don Antonio… bis dahin… muß die maurische Herrschaft ertragen werden. Die Geschichte der letzten hundert Jahre zeigt Beispiele viel schlimmerer, viel drückenderer Okkupationen.
Wer nicht scharf hinsieht, merkt kaum etwas von der Besetzung des Landes. Die Verwaltung liegt in den Händen Ihres alten Beamtenapparates. Spanische Ritter urteilen nach spanischem Recht und in spanischer Sprache. Das Volk geht seinem Erwerb wie früher nach…«
»Das ist es ja, Senor Eisenecker. Das ist ja das Schlimme. Dieser kluge Abdurrhaman vermeidet alles, was auch nur den Anschein einer Bedrückung erwecken könnte. Unsere religiösen Einrichtungen und Sitten, unsere bürgerlichen Gebräuche, Spiele und Feste, alles wie früher! Jeder kann unbehindert seinen Geschäften nachgehen. Auch die Steuern nicht höher als früher, nur mit dem Unterschied, daß sie jetzt in maurische Kassen fließen. Strengste Manneszucht der Truppen. Größte Zurückhaltung des Militärs im öffentlichen Leben. Das ist ja die teuflisch schlaue Politik des Kalifen, alles zu vermeiden, was Unzufriedenheit erregen könnte.
Das Volk in seiner Masse spürt kaum etwas von dem Wechsel der Gewalt, von dem Wandel der Dinge. Den Fremden, die aus Europa in unser Land kommen wollen, werden nicht die geringsten Schwierigkeiten gemacht. Sie finden Gelegenheit, alles mit eigenen Augen zu betrachten. Wenn sie objektiv sind, müssen sie zugeben, daß die wirtschaftliche Lage des Landes in keiner Weise schlechter geworden ist. Die maurischen Eroberer vermeiden alles, was etwa das Interesse der übrigen Welt an den so sehr veränderten Zuständen erregen könnte.
Gelegentlich ein paar Putsche… das kommt wohl vor, wird aber immer schnell und mit größter Energie unterdrückt, dringt kaum in dieÖffentlichkeit…«
Ein Lärm von der Straße her unterbrach den Oberst, ließ auch Eisenecker aufhorchen und ans Fenster treten. Ein Gebrüll wie von Betrunkenen. Das Geheul der Volksmasse. Jetzt ein Schuß… jetzt der Gleichschritt heranmarschierender Truppen. War es einer dieser Putsche, von denen Antonio Gonzales soeben gesprochen hatte?
Iversen hatte Eisenecker nicht aus den Augen verloren. Von den Niagara-Fällen war er ihm nach Frankreich und Spanien gefolgt, hängte sich auch hier in Madrid an seine Fersen. Jetzt stand er abwartend in der Calle del Prado, vertrieb sich die Zeit, indem er Beobachtungen machte, und amüsierte sich über zwei Betrunkene.
Ein spanischer Polizist versuchte die beiden Opfer des Alkohols von der Straße zu bringen, und wurde mit ihnen nicht fertig. In seiner Verlegenheit rief er eine gerade vorbeimarschierende maurische Wache um Hilfe an, und im Augenblick verwandelte sich die Szene. Das Vorgehen des Polizisten, Fremde gegen seine Landsleute aufzubieten, erregte allgemeinen Unwillen. In wenigen Minuten waren die maurischen Soldaten von schreienden, gestikulierenden und drohenden Gruppen umringt. Und nun nahm die Angelegenheit eine dramatische Wendung, denn irgendwo fiel aus der Menge ein Schuß und wirkte wie ein Alarmsignal. Sofort eilten aus den Seitenstraßen andere Truppen herbei und riegelten den Platz ab. Ehe Iversen die Entwicklung der Dinge noch recht begriffen hatte, fühlte er eine schwere Hand auf seiner Schulter, und der barsche Befehl: Zur Wache! drang an sein Ohr. Das gesamte, am Tatort befindliche Publikum, wohl an 30 Personen, mußte, von den Truppen eskortiert, den Weg zur Polizeiwache antreten.
Es war höhere Gewalt. Jeder Widerstand unmöglich. Das sah Iversen wohl ein und fügte sich in das Unvermeidliche. Was sollte ihm auch schließlich passieren? Seine Papiere waren ja in bester Ordnung. Sein Paß enthielt einen besonderen empfehlenden Vermerk des maurischen Generalkonsuls in Berlin.
Der Weg zur Wache war etwa zehn Minuten weit. Der Zufall brachte Iversen dabei an die Seite einer jungen hellblonden Dame, und mit wachsendem Interesse musterte er die Gestalt seiner Leidensgenossin. Ganz offensichtlich keine Spanierin. Zweifellos germanisches Blut. Engländerin?… Skandinavierin? Oder vielleicht auch Deutsche? Iversen überlegte noch, wie er die Herkunft seiner Begleiterin ermitteln könne, als aus der Reihe der hinter ihm Gehenden, mehr im Scherz als im Ernst gemeint, eine Bemerkung fiel: Wer jetzt keinen Paß hat, dem geht es schlecht. Ein Lächeln flog über Iversens Züge. Selbstzufrieden strich er mit der Hand über die Brusttasche, in der er seinen Paß wußte. Ganz anders war die junge Dame. In sichtlicher Aufregung begann sie in ihre Handtasche zu suchen, während deutsche Worte von ihren Lippen fielen: »O Gott, mein Paß, wo ist denn nur mein Paß geblieben!«
Also doch eine Deutsche! Iversen hielt es für geboten, sich ins Mittel zu legen.
»Nur Ruhe, meine Gnädigste. Wenn Sie ihren Paß bei sich hatten, so muß er auch jetzt noch da sein. Sehen Sie Ihre Tasche nur in Ruhe durch. Ah, sehen Sie, da ist er ja schon.«
Erleichtert atmete die Dame auf. Abgebrochen kam es von ihren Lippen:
»Gott sei Dank, daß, er da ist… das hätte doch unangenehm werden können…«
Sie beherrschte das Deutsche zwar fließend, sprach es aber mit dem etwas harten Akzent der Balten.
»Seien Sie unbesorgt, meine Gnädigste. Der Zwischenfall ist für uns alle nicht angenehm. Aber schließlich wird es mit einer kurzen Prüfung unserer Papiere sein Bewenden haben. In einer halben Stunde werden sich die Besitzer von ordnungsgemäßen Pässen zweifellos wieder im Genüsse voller Freiheit befinden…«
Unverwandt ruhten die Blicke Iversens dabei auf den Zügen seiner Begleiterin. Er hätte gern noch weiter gesprochen, wenn der Zug nicht inzwischen bei der Wache angekommen wäre.
Hier ging es schnell voran. Kurze Kommandos: Alle Personen ohne Pässe in diesen Raum! Alle Personen mit Pässen in dies Zimmer.
Der Polizeikommissar. Iversen konnte nicht recht klug daraus werden… war es ein Spanier, ein Spaniole oder ein Maure? Er drängte sich vor, hielt dem Beamten seinen Paß vor die Nase, deutete mit dem Finger auf den Vermerk.
»Hier mein Paß, Herr Kommissar. Hier eine besondere Empfehlung Ihres Generalkonsuls in Berlin.« Der Kommissar warf kaum einen Blick darauf.
»Warten Sie, Senor! Erst die Damen!«
Damit wandte er sich der blonden Begleiterin Iversens zu und nahm den Paß in Empfang.
»O Senora, entschuldigen Sie bitte… Verzeihen Sie bitte! Ein peinlicher Mißgriff… die Beamten wußten nicht…« Mit vielen Verbeugungen gab der Kommissar der Dame ihren Paß zurück, begleitete sie selbst unter nochmaligen Entschuldigungen aus der Wache. Kam dann zurück, die Ausweise