»Ich kam vor einiger Zeit auf einer geschäftlichen Reise in die Kanalzone. Ein Zufall ließ mich dort den Namen Harlessen hören. Ich erfuhr von dem tragischen Tod Ihres Vaters und von Ihrer Abreise nach Milwaukee. Da mich dringende Geschäfte nach Europa zurückriefen, beauftragte ich das Pinkerton Office, weitere Nachforschungen anzustellen.«
Er richtete seinen Blick auf das junge Mädchen, das zurückgesunken in dem Fauteuil lag. Die Augen halb geschlossen, schien sie über seine Worte nachzudenken.
»Und welchen Zweck verfolgten Sie mit Ihrem Besuch? Nehmen wir an, der Sturz wäre gestern Abend nicht geschehen.«
Uhlenkorts Blick glitt voll Teilnahme über die schlanke junge Gestalt.
»Ich kam hierher, Fräulein Harlessen, um Sie zu bitten, einen Beruf, dessen Gefährlichkeit der gestrige Abend wieder bewiesen hat, aufzugeben und in die alte Heimat zurückzukehren.«
»Heimat? Das Wort hörte ich so oft aus dem Munde meines Vaters …
Ich verstand es nie ganz, der Begriff war mir fremd. Ich weiß nur, wie oft ihm die Tränen kamen, wenn das Wort fiel. Meine Heimat … wo ist sie? Wir zogen in den Staaten von Stadt zu Stadt, bis wir am Kanal ansässig wurden. Hamburg ist sicher nicht meine Heimat. Wie soll ich dahin zurückkehren, wo ich doch nie gewesen bin? Meine Heimat ist der Zirkus! Die Zirkuswelt …«
Er machte eine abweisende Bewegung.
»Fräulein Harlessen, ich kann es nicht glauben. Sie sprachen in der Erregung des Augenblicks. Ihr Gesicht, Ihre Augen – alles verrät das Harlessensche Blut. Das läßt sich nicht verleugnen. Es ist unmöglich, Fräulein Harlessen, daß Sie sich auf die Dauer in dieser Umgebung wohl fühlen können. Ich bin erstaunt, daß Sie diesen Beruf ergriffen haben. Wie kamen Sie zu diesem Entschluß?«
»Oh, sehr einfach. Ich kam nach Milwaukee und fand von meinen Verwandten mütterlicherseits niemanden mehr vor.
Meine Mittel waren zu Ende. Ich traf einen früheren Cowboy unserer Farm, der Zirkusreiter geworden war, schilderte ihm meine Lage und folgte seinem Rat, Zirkusreiterin zu werden. Wir gingen zum Direktor.
Er erlaubte, daß ich ihm vorreiten durfte. Ich gefiel ihm. Das Engagement war perfekt. Sie sehen …«
»Das war ein ebenso schneller wie energischer Entschluß, Fräulein Harlessen. Aber ich glaube, es hätten sich für Sie doch noch andere Möglichkeiten geboten, zum Beispiel …«
Ein leichtes Lächeln huschte über das Gesicht von Christie Harlessen.
»Glauben Sie wirklich, Herr Uhlenkort, daß ich mich etwa als Gesellschafterin in einer Milliardärsfamilie oder als Gouvernante von ungezogenen Kindern besser ausnehmen würde?«
Sie lehnte sich halb belustigt, halb entrüstet zurück.
»Gut! Lassen wir das, Fräulein Harlessen, das, was geschehen. Ich wollte Sie bitten, diesen gefahrvollen Beruf aufzugeben und mit mir nach Hamburg zurückzufahren, die Lösung Ihres Vertrages würde ich übernehmen.«
»Und was soll ich in Hamburg?«
»In Hamburg würden Sie von Ihren Verwandten mit offenen Herzen empfangen werden.«
»Und was weiter … was dann?«
»Sie würden als Tochter des Hauses Harlessen leben, alle Vorzüge genießen, die damit verbunden sind.«
»Die arme Verwandte! Das Aschenbrödel aus dem Märchen? Nicht mein Geschmack! Ich ziehe es vor, auf eigenen Füßen zu stehen.«
»Ah«, versetzte Uhlenkort mit einiger Schärfe. »Sie wollen lieber weiter durch die Welt ziehen?«
»Warum nicht? Nehmen Sie an, Herr Uhlenkort, Sie haben ein American Girl vom reinsten Wasser vor sich.«
Uhlenkorts Miene verdüsterte sich. »Ich dachte, ich hätte eine Tochter des Hauses Harlessen aus Hamburg vor mir. Wenn ich mich da täuschte.
ich bitte um Verzeihung.« Er erhob sich. »Noch etwas! Fräulein Harlessen, ich glaube, Sie dahin verstanden zu haben, daß das Gefühl der materiellen Unabhängigkeit Ihre Entschlüsse leitet.«
Christie zuckte die Achseln.
»Bei Ihrer Weigerung sind Sie da von einer falschen Annahme ausgegangen. Sie würden keineswegs das Aschenbrödel aus dem Märchen sein.«
»Sondern?« Christie richtete sich fragend auf.
»Ihr Vater hat nie aufgehört, Angehöriger der Familie Harlessen zu sein, das heißt in diesem Falle Teilhaber der Firma Harlessen.«
»Ah, ich verstehe, Herr Uhlenkort! Aber …« Uhlenkort trat näher auf sie zu.
»Allerdings, Fräulein Harlessen, es ist, wie ich Ihnen sagte. Zu einem gewissen Teil, dessen Höhe ich nicht genau angeben kann, sind Sie Erbin oder Teilhaberin der Firma.«
Einen Augenblick schaute Christie prüfend auf die hohe, ernste Männergestalt, die da vor ihr stand, in das offene, klare Gesicht, aus dem reine Teilnahme sprach. Sie schien unsicher zu werden. Dann, mit plötzlichem Entschluß reckte sie sich auf. Ihre Hand streckte sie ihm entgegen.
»Ich danke Ihnen, Herr Uhlenkort, für Ihre Teilnahme und Ihr Interesse. Auch wenn ein derartiger Anspruch meinerseits, vielleicht rechtlich begründet wäre …
Ich kenne meines Vaters Schuld … Ich weiß, was daraus für die Firma Harlessen entstand … und ich weiß, daß ich keinen Anspruch habe. Ich verzichte.«
»Fräulein Harlessen, wissen Sie auch, worauf Sie verzichten?«
»Wie hoch die Summe ist, ist einerlei. Mag sie hoch oder niedrig sein.
Nochmals meinen Dank, Herr Uhlenkort.«
Uhlenkort ergriff die dargebotene Hand und beugte sich darüber. Seine Augen hingen an dem blassen, jungen, schönen Antlitz.
»Eine Harlessen sind Sie doch, Fräulein Christie. Ich gehe, aber ich gehe in der Hoffnung, daß Sie eines Tages anders denken werden.«
»Sie hoffen, daß der Harlessensche Dickkopf – ich verstehe wohl, Ihre Gedanken zu lesen – eines Tages sich bessern könnte.«
Uhlenkort lachte.
»Meine Hoffnung wird größer, wenn ich Sie höre.«
»Oh, ich warne Sie! Hoffen Sie nicht zuviel. Es wird vielleicht noch mancher Tropfen Wasser die Elbe hinunterfließen.«
Wieder beugte sich Uhlenkort über die Hand und drückte einen langen Kuss auf die schmalen Finger.
»Wir werden uns wieder sehen!«
Uhlenkort war gegangen. Gedankenverloren schaute Christie Harlessen ins Weite. Dann stützte sie den Arm auf und wollte sich erheben. Mit einem Wehlaut sank sie zurück. Ihre Hand griff zum Herzen. Was war das? Der Arzt, den die Zofe in den Raum führte, fand sie in tiefer Ohnmacht.
Bei Montegna am Panamakanal. Eine Lichtung im tropischen Urwald.
Nur mit Mühe halten Axt und Feuerbrand die gerodete Fläche von der üppigen, immer wieder anstürmenden Vegetation frei.
Hier liegt das Hauptquartier der New Canal Company. Das große Verwaltungsgebäude, in massivem Betonguß errichtet.
In diesem Hause waltet James Smith, der Chefingenieur der New Canal Company, der Herr über hunderttausend Menschen und Millionen Pferdestärken. Von hier aus laufen die Befehle zu den hundert Etappen der neuen Kanalstraße. Von hier aus wird disponiert über Menschen, über Maschinen und über Sprengstoffe, die unerhörte Kräfte bergen.
James Smith ist der Herrscher dieses industriellen Königreichs. Der absolute Herrscher. Als einfacher Bohringenieur hatte er seine Laufbahn begonnen. Ein außergewöhnliches Organisationstalent, eine vor nichts zurückschreckende Energie, ein Kopf voll genialer technischer Ideen hatten ihn in schnellen Sprüngen zur höchsten Stellung emporsteigen lassen. James Smith saß an seinem mit Karten und Plänen bedeckten