Da! Was war das? Eine neue Gestalt auf jenem Wagen. Der Chefingenieur kniff die Brauen zusammen. Er? Der von da drüben?
Vom alten Leuchtturm … Was wollte der?
Der Chefingenieur schüttelte den Kopf. Dafür? Oder dagegen? Was hat der Mann vor? Er sah von der erhöhten Steintreppe aus, wie die Massen in nächster Nähe des neuen Redners sich wandten, zurückwandten, wie die Köpfe sich zu ihm hoben. Sah, wie der Blick des Mannes über den Zechenplatz schweifte. Glaubte auch selbst davon getroffen zu sein … glaubte auch selbst eine Wirkung zu verspüren … unerklärlich … rätselhaft … bannend … zwingend.
Und dann sah er, wie die Massen sich immer dichter um die Lore zusammenkeilten. Sah, wie der da oben die Lippen öffnete. Sah, wie vom Zechentor her ein Rückstrom kam, sah geballte Fäuste sich heben und sich senken. Sah, wie die an seinem Munde hingen und seinen Worten folgten … und Stille eintrat … und er auch zu hören begann und er auch stand und lauschte.
Was war das? Was geschah hier? War es wirklich jener von da drüben? Ja, er war’s! Ein Mensch … war’s ein Mensch? Er hielt die Augen zu. Seine Gehörnerven spannten sich zum äußersten. Und er hörte alles, was jener wundersame Mensch da oben sprach. Sein Kopf senkte sich immer tiefer. Die Töne, die von da oben kamen, drangen tief in sein Innerstes ein. Verwirrend … betäubend … beruhigend. Er fühlte sich mit allen Fasern des Seins gezogen … gepackt. Er fühlte einen Willen, stärker, als er ihn je gefühlt, der ihn zwang … fesselte … willenlos machte. Und er stand und hörte …
Der Redner schien geendet zu haben. Die Stimme da oben verstummte. Der Chefingenieur hob den Kopf, richtete seine Augen auf die Gestalt des Redners. Sah, wie jener die Rechte ausstreckte … zum Schachtturm wies.
»Und nun geht an eure Arbeit!«
Kein gebieterischer Ton … kein Befehl … einfach, ruhig … fast gelassen klangen die Worte. Der Chefingenieur stand einen Augenblick starr. Was? Noch immer die Gestalt da oben auf dem Wagen. Die Rechte nach dem Zechenhaus deutend. Die Blicke langsam im Kreise über die Gesichter der Belegschaft gleitend. Eine kurze Spanne tiefster Stille und Ruhe. Dann wandten sich die Köpfe. Die Massen gerieten in Bewegung. Da … dort … überall lösten sich einzelne Gruppen und strebten dem Förderturm zu.
Am nächsten Morgen saß Uhlenkort in der Halle seines Hotels beim Lunch. Eine kurze, fast überall gleichlautende Notiz in allen Zeitungen: Unfall im Zirkus Briggs. Er legte die Blätter zur Seite und sah nach der Uhr. Noch immer nichts von Tredrup … Was war da los? Er ließ den Portier holen und fragte ihn.
»Mr. Tredrup ist erst gegen Mitternacht ins Hotel zurückgekommen und wird vermutlich noch auf seinem Zimmer sein.«
Wieder verging eine Zeit, da sah er Tredrup die große Treppe hinab kommen. Schon von weitem fiel ihm dessen Aussehen auf. War dies verfallene, übernächtige Gesicht mit den unruhigen, fiebrig glänzenden Augen das des stets heiteren, blühenden Klaus Tredrup?
Mit Besorgnis und Unruhe reichte er ihm die Hand. »Was ist Ihnen, Herr Tredrup? Sind Sie krank?«
»Ich krank? Nein, Herr Uhlenkort. Nicht im geringsten.«
Ein kurzes, stoßweises Lachen begleitete seine Worte.
»Ich bitte Sie, Herr Tredrup, verstehen Sie meine Teilnahme nicht falsch. Ihr Aussehen straft Sie Lügen. Sie sind krank. Diese Veränderung von gestern auf heute ist nicht anders zu erklären … oder hängt das noch mit dem Unfall in Mineapolis zusammen?«
»Dieselbe Frage …« Tredrup brach kurz ab. Er stürzte eine Tasse Tee hinunter und griff nach den Zeitungen.
»Übrigens …« Er wandte sich Uhlenkort zu. »Wir haben mit unseren Zirkusbesuchen ausgesuchtes Pech! Meinen Sie nicht auch?«
Uhlenkort nickte. Sein Auge ruhte mit Sorge auf den so veränderten, nervösen Zügen Tredrups.
»Immerhin brachten wir es bis zur sechsten Nummer des Programms«, sagte Tredrup. »Vielleicht haben wir das nächste Mal mehr Glück.«
»Herr Tredrup, ich bitte Sie! Lassen Sie die Scherze. Sie versuchen vergeblich, mich über die Sorge um Sie hinwegzutäuschen. Ich will nicht indiskret sein. Wenn Sie es für besser halten, zu schweigen, so schweigen Sie. – Ich selbst möchte Ihnen kurze Mitteilungen über mein Verhalten am gestrigen Abend im Zirkus geben. Sind Sie bereit und imstande, mich anzuhören?«
»Oh, gewiß, Herr Uhlenkort. Mein Interesse ist groß … vielleicht größer als …«
Er rückte seinen Sessel näher an den Uhlenkorts heran.
»So hören Sie mir zu, Herr Tredrup. Es ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde, aber ihr Ende wird schließlich in den Zirkus von Kapstadt führen. War davor etwa fünfzig Jahren ein Sohn aus dem Hause Harlessen – Sie kennen sicher die Hamburger Firma und vielleicht auch die Familie – nach Amerika ausgewandert. Die Familien Uhlenkort und Harlessen sind von Großvaters Seite her verschwägert.
Die Ursachen, weshalb jener Harlessen nach Amerika auswanderte, lagen in pekuniären Differenzen mit seinem Vater. In Differenzen von einer Schwere immerhin, daß – um mich jener Worte zu bedienen – das Tischtuch zwischen beiden zerschnitten wurde.
Jener Harlessen kam nach mancherlei Irrfahrten nach Mittelamerika und kaufte sich in der Nähe des Kanals eine Farm. Seine Frau starb früh.
Eine Tochter wuchs ihm auf. Christie Harlessen. Es ist die Schulreiterin, die wir gestern sahen …«
Klaus Tredrup fuhr auf. »Flores de Tejada ist Christie Harlessen?«
Uhlenkort nickte.
»Ein tragisches Schicksal liegt über dem Mädchen, das ich übrigens gestern Abend zum ersten Male sah. Von den Landenteignungen am Panamakanal wurde auch ihr Vater betroffen. Und nun beginnt eine Reihe von dunklen Ereignissen, deren Aufklärung mir bis jetzt noch nicht gelungen ist. Als erstes nenne ich das: Es wurde die durchaus nicht kleine Entschädigungssumme entgegen sonstigen Gepflogenheiten in bar bezahlt.
Am Abend vor der Abreise von der Besitzung kamen Vater und Tochter von einem Abschiedsbesuch zu Pferde zurück. Ich erzähle es Ihnen so, wie es mir von Leuten am Kanal berichtet wurde, als ich vor etwa drei Wochen da unten war.
Jetzt der andere höchst sonderbare Punkt. Der einzige Diener, der noch auf der Farm war, ist verschwunden … Christie bringt die Pferde selbst in den Stall, während ihr Vater in das Haus tritt. Während sie noch mit den Pferden beschäftigt ist, hört sie aus dem Hause einen Schrei. Die Stimme ihres Vaters. Sie läuft in das Haus. In dem dunklen Flur – es war nach Sonnenuntergang – stürzt ein Mann an ihr vorbei. Sie eilt in das Zimmer des Vaters. Findet ihn, aus einer schweren Wunde am Hinterkopf blutend, am Boden liegen. Die gepackten Koffer im Zimmer sind aufgebrochen und durchwühlt, Geld und Wertsachen geraubt. Der Vater stirbt, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Christie verläßt die Farm.
Soweit gingen die Mitteilungen, die mir da unten gemacht wurden. In den Staaten wandte ich mich an das Pinkerton Office. Die Auskunft lautete: Christie Harlessen aus Not Zirkusreiterin geworden.
Vor meiner Abreise nach Timbuktu bekam ich die weitere Nachricht, daß sie zurzeit hier sei. Der Zufall war mir günstig. Ich hatte ja ohnehin die Absicht hierher zufahren.«
»Sie nannten es Zufall, Herr Uhlenkort …« Tredrup sagte es wie traumverloren.
»Gewiß, Herr Tredrup, ein Zufall wollte es so … oder wollen Sie das für ein Geschick, für eine höhere Fügung halten?«
Tredrup zuckte kurz mit den Achseln. Sein Blick ging zur Seite.
»Zufall … Fügung … was weiß ich?«
»Aber, Herr Tredrup.« Uhlenkort sagte es lachend. »Ich erkenne Sie nicht wieder. Sie, Herr Klaus Tredrup, belieben über Schicksal und Zufall zu philosophieren. Sie, der Mann der nackten Tatsachen. Sollte Ihnen gestern Abend auch so ein mystischer Zufall passiert sein?
Beinahe