Doch ihr seht, wie das Greisenalter nicht nur nicht schlaff und unthätig ist, sondern vielmehr arbeitsam und immer Etwas betreibt und unternimmt, natürlich Etwas von der Art, wie eines Jeden Beschäftigung in seinem früheren Leben war. Ja, es gibt Greise, welche auch noch Etwas hinzu lernen. So sehen wir, daß sich Solon 95 in seinen Versen rühmt, indem er sagt, er werde unter täglichem Hinzulernen alt. Ein Gleiches habe ich gethan; denn ich habe mich noch als Greis mit der Griechischen Literatur bekannt gemacht, und ich ergriff sie so gierig, als ob ich einen langwierigen Durst zu stillen wünschte, und so sind mir gerade die Dinge bekannt geworden, die ihr mich jetzt als Beispiele anführen seht. Da ich hörte, Sokrates habe es mit dem Saitenspiele 96 so gemacht, so wünschte ich allerdings dieses auch; denn die Alten lernten das Saitenspiel, indeß habe ich mich wenigstens mit den Wissenschaften fleißig beschäftigt.
IX.
27. Auch vermisse ich, jetzt wenigstens, nicht die Kräfte des Jünglings, – das war nämlich der zweite Punkt unter den Fehlern des Greisenalters – ebenso wenig, als ich in meiner Jugend die Kräfte eines Stieres oder Elephanten vermißte. Was man hat, das soll man benutzen, und was man auch thun mag, nach Maßgabe seiner Kräfte thun. Denn kann wol eine Aeußerung verächtlicher sein, als die des Krotoniaten Milo 97? Als dieser schon ein Greis war und Wettkämpfer sich auf der Rennbahn üben sah, soll er seine Arme angeschaut und weinend gesagt haben: »Ach, diese sind schon abgestorben!« Nein, nicht diese, sondern vielmehr du selbst, Schwätzer. Denn niemals bist du durch dich berühmt geworden, sondern durch deine Brust und deine Arme. Dieß kann man nicht von Sextus Aelius 98 sagen, nicht viele Jahre zuvor von Tiberius Coruncanius 99, nicht vor Kurzem von Publius Crassus 100: Männern, welche den Bürgern Gesetze vorschrieben, und deren Staatsklugheit bis zum letzten Lebenshauche fortschritt.
28. Der Redner, fürchte ich, dürfte im Alter erschlaffen; denn sein Beruf erheischt nicht allein Geist, sondern auch eine gute Brust und Leibeskräfte. Allerdings tritt jenes Wohltönende der Stimme, ich weiß nicht wie, auch noch im Greisenalter deutlich hervor; wenigstens hab' ich es noch nicht verloren, und ihr seht meine Jahre; indeß beruht bei dem Vortrage eines Greises die Würde auf einer ruhigen und gelassenen Rede, und sehr oft verschafft sich schon allein der geschmückte und sanfte Vortrag eines beredten Greises Gehör. Und kann man selbst auch dieses nicht mehr leisten, so kann man doch einem Scipio und Lälius Vorschriften ertheilen. Denn gibt es wol etwas Erfreulicheres, als einen Greis zu sehen, der von wißbegieriger Jugend umringt ist?
29. Oder wollen wir dem Greisenalter nicht einmal die Kräfte überlassen Jünglinge zu belehren, zu unterrichten und zu jeder Berufspflicht auszurüsten? Und kann wol Etwas herrlicher sein als ein solches Geschäft? Mir erscheinen in der That Gnäus und Publius Scipio 101 und deine beiden Großväter, Lucius Aemilius 102 und Publius Africanus 103, in der Umgebung edler Jünglinge beglückt, und alle Lehrmeister der edlen Wissenschaften sind für glücklich zu achten, so sehr auch ihre Körperkräfte gealtert und abgenommen haben; indeß ist selbst diese Abnahme der Kräfte öfter eine Folge von Jugendsünden als von Gebrechen des Greisenalters; denn eine wollüstige und unmäßige Jugend überliefert dem Greisenalter einen entkräfteten Körper.
30. Cyrus wenigstens erklärt bei Xenophon 104 in der Rede, die er in hohem Alter auf dem Sterbebette hielt, er habe niemals gefühlt, daß sein Alter schwächer geworden sei, als sein Jünglingsalter gewesen wäre. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit, daß Lucius Metellus 105, der vier Jahre nach seinem zweiten Consulate Hoher Priester geworden war und zweiundzwanzig Jahre diesem Priesteramte vorstand, bei so guten Kräften in der letzten Zeit seines Lebens war, daß er seine Jugend nicht vermißte. Ich habe nicht nöthig von mir selbst zu sprechen, wiewol dieß der Greise Art ist und unserem Alter zugutegehalten wird.
X.
31. Seht ihr nicht, wie sich Homerus' Nestor 106 so oft seiner Vorzüge rühmt? Denn er lebte schon im dritten Menschenalter 107 und brauchte nicht zu befürchten, wenn er sich wahrer Vorzüge rühme, für zu anmaßend oder zu geschwätzig zu gelten. Denn es entfloß, wie Homerus sagt, seiner Zunge die Rede süßer denn Honig 108. Zu dieser Anmuth bedurfte er keiner Körperkräfte; und doch wünscht jener Heerführer 109
Αὶ γάρ, Ζευ̃ τε πάτερ καὶ ’Αθηναίη καὶ ’Άπολλον
Τοιου̃τοι δέκα μοι συμφράδμονες ει̃εν ’Αχαιω̃ν.
’Ανδρω̃ν αυ̃ μέγ' άριστος έην Τελαμώνιος Αίας,
’Όφρ' ’Αχιλεὺς μήνιεν· ο γὰρ πολὺ φέρτατος η̃εν.
32. Doch ich komme auf mich zurück. Ich stehe jetzt im vierundachtzigsten Jahre. Ich wünschte allerdings ebendasselbe von mir rühmen zu können, was Cyrus von sich rühmt 110; gleichwol kann ich das behaupten, wenn ich auch nicht mehr die Kräfte besitze, die ich als gemeiner Krieger im Punischen Kriege oder als Quästor in dem nämlichen Kriege oder als Consul in Hispanien besaß, oder vier Jahre später, da ich als Kriegstribun unter dem Consul Manius Acilius Glabrio 111 bei den Thermopylen focht; so hat mich doch, wie ihr seht, das Alter nicht ganz entnervt und zu Boden gedrückt. Nicht vermißt meine Kräfte die Curie, nicht die Rednerbühne, nicht die Freunde, nicht die Schutzgenossen, nicht die Gastfreunde. Denn nie habe ich jenem alten und gepriesenen Sprüchworte beigepflichtet, welches mahnt, man müsse früh Greis werden, wenn man lange Greis sein wolle 112. Ich fürwahr wollte weniger lange als vor der Zeit Greis sein. Daher hat sich noch Niemand an mich wenden wollen, für den ich zu beschäftigt gewesen wäre 113.
33. » Aber ich habe weniger Kräfte als Einer von euch Beiden.« Auch ihr habt nicht die Kräfte des Hauptmannes Titus Pontius 114; ist nun wol dieser darum