Kap. XXIII. Nun, mein Cato, wenn Du die Wahrheit ihnen in Deiner Antwort sagen wolltest, so müsstest Du folgendermassen sprechen: Diese Männer von so grossem Geiste und bedeutendem Ansehn hätten Dir zwar nicht misfallen; aber Du hättest bemerkt, dass die Dinge, welche sie wegen der alten Zeiten noch wenig erkannt hatten, von den Stoikern durchschaut worden seien; diese hätten sie scharfsinniger untersucht und sie ernster und eindringender aufgefasst; denn sie hätten zuerst es ausgesprochen, dass die Gesundheit nicht zu erstreben, sondern nur zu wählen sei und dass sie nicht als Gut einen Werth habe, sondern weil sie nicht für nichts zu achten sei; obgleich auch die Männer, welche sie zu den Guten rechnen, sie deshalb nicht höher stellen. Du hättest es nicht ertragen können, dass jene Alten, jene Langbärte, wie wir von den Unsrigen zu sagen pflegen, ein Leben für wünschenswerther und besser und erstrebenswerther gehalten hätten, wo mit dem sittlichen Verhalten auch eine gute Gesundheit, ein guter Ruf und Vermögen verbunden sei, als ein Leben, wo man zwar auch ein rechtschaffener Mann aber »in vielerlei Weise« wie der Alcmäon bei Ennius
». . . . . von Krankheit geplagt sei, verbannt und in Elend.«
(§ 63.) Jene Alten hätten ein solches Leben weniger scharfsinnig ein wünschenswerthes, vorzüglicheres und glücklicheres genannt; dagegen hätten die Stoiker es nur als ein solches bezeichnet, was man bei der Wahl vorzuziehen habe, nicht weil es glücklicher, sondern naturgemässer sei; auch hätten ihnen alle Menschen, die nicht weise wären, für gleich elend gegolten. Die Stoiker hätten es nämlich bemerkt, die Aeltern aber übersehen, dass Menschen befleckt mit Vatermord und allen Verbrechen keineswegs elender seien als die, welche bei einem züchtigen und rechtschaffenen Lebenswandel nur jene vollendete Weisheit noch nicht erreicht hätten. (§ 64.) Und hier hast Du jene ganz unpassenden Gleichnisse vorgebracht, die man von den Stoikern zu hören bekommt; denn das weiss allerdings Jeder, dass, wenn Mehrere aus der Tiefe des Meeres sich erheben, die, welche der Oberfläche des Wassers schon nahe sind, dem Athem holen zwar näher sind, als die noch in der Tiefe befindlichen, aber trotzdem so wenig wie diese schon Athem holen können. Also soll es nichts helfen, wenn man in der Tugend vorschreitet, und soll man vor der Erlangung der Tugend immer gleich unglücklich sein, weil bei dem Wasser dies nichts nützt, und weil die kleinen Hündchen, die bald sehen werden, ebenso blind sind als die nur erst gebornen? Dann müsste auch Plato, weil er die Weisheit noch nicht sah, geistig so blind gewesen sein, wie Phalaris.
Kap. XXIV. (§ 65.) Jene Gleichnisse, mein Cato, passen hier nicht, weil in den Fällen dieser Gleichnisse, wenn man auch schon grosse Fortschritte gemacht hat, doch noch die Lage dieselbe bleibt, der man entgehen will, so lange man nicht völlig herausgekommen ist; denn der im Wasser kann nicht eher Athem holen, bis er aufgetaucht ist, und die Hündchen sind, ehe ihre Augen sich geöffnet haben, ebenso blind, als wenn sie immer blind bleiben würden. Dagegen kann man als Gleichniss setzen, dass Jemand schwache Augen hat oder dass ein Anderer körperlich siecht; diese bessern sich durch ihre Kur von Tag zu Tag und der Eine wird täglich wohler und der Andere lernt täglich besser sehen. Diesen gleichen Alle, welche nach der Tugend streben; ihre Fehler, ihre Irrthümer nehmen ab; Du müsstest denn meinen, dass T. Gracchus der Vater, nicht glücklicher als sein Sohn gewesen sei, da Jener den Freistaat befestigen und Dieser ihn umstürzen wollte. Trotzdem war der Vater kein Weiser (denn wo und wenn giebt es einen solchen; woher kommt er, oder wo ist er?), vielmehr war er glücklicher, weil er dem Lobe und der Ehrenhaftigkeit nachstrebte, und in der Tugend schon weit vorgerückt war. (§ 66.) Lass uns Deinen Grossvater Drusus mit G. Gracchus vergleichen, der beinah sein Zeitgenosse war. Die Wunden, welche Letztrer dem Freistaate schlug, heilte Jener. Wenn nichts so elend macht, als Gottlosigkeit und Verbrechen, so kann man zwar zugeben, dass alle unwissende elend seien, wie dies auch richtig ist; allein das Elend Dessen, der dem Vaterland beisteht, und Dessen, der es vernichten will, ist nicht gleich gross. Deshalb ist eine grosse Erleichterung der Fehler bei Denen vorhanden, welche einige Fortschritte zur Tugend gemacht haben. (§ 67.) Ihr erkennt an, dass ein Fortschritt zur Tugend statthaben, könne, aber bestreitet, dass eine Minderung der Fehler möglich sei. Indess verlohnt es sich der Mühe, den Grund, womit diese scharfsinnigen Männer dies beweisen wollen, näher zu betrachten. Sie sagen, dass in Wissenschaften und Künsten, wo das Höchste noch wachsen könne, auch das entgegengesetzte Höchste noch zunehmen könne; aber zum Höchsten der Tugend, könne nichts hinzukommen und deshalb könnten auch die Fehler nicht wachsen, da sie nur das Gegentheil der Tugenden seien. Aber soll denn das Klare durch das Zweifelhafte beseitigt, oder nicht vielmehr das Zweifelhafte durch das Klare gelöst werden? Es ist doch klar, dass der eine Fehler grösser ist als der andere; dagegen ist es zweifelhaft, ob bei dem höchsten Gut, wie Ihr es fasst, noch eine Steigerung eintreten kann, und Ihr versucht somit das Klare durch das Zweifelhafte aufzuheben, anstatt dass Ihr durch das Klare die Zweifel aufhellen solltet. (§ 68.) Ihr werdet deshalb hier wieder von demselben Einwand getroffen, dessen ich mich schon vorher bedient habe. Wenn nämlich die mancherlei Fehler deshalb in der Grösse nicht verschieden sein können, weil bei dem höchsten Gute, wie Ihr es bildet, keine Vermehrung eintreten könne, so muss vielmehr, da es klar ist, dass die Fehler aller Menschen nicht gleich sind, Euer höchstes Gut eine Aenderung erleiden; denn wir müssen festhalten, dass, wenn eine Folge sich als falsch ergiebt, nothwendig der Satz, aus dem die Folge hervorgeht, falsch sein muss.
Kap. XXV. Was ist nun die Ursache von all diesen Verlegenheiten? Nur eine ruhmsüchtige Prahlerei bei Bildung des höchsten Gutes. Denn wenn nur das Sittliche das alleinige Gut sein soll, so fällt damit die Sorge für die Gesundheit fort, so wie die Thätigkeit in den eignen Angelegenheiten, die Theilnahme an den Staatsgeschäften, die Ordnung in der Führung der Geschäfte und alle Pflichten am Leben; ja, jenes Sittliche selbst muss aufgegeben werden, in welches Ihr Alles verlegt. Chrysipp hat dies am sorgfältigsten gegen Aristo dargelegt. Aus dieser Schwierigkeit sind nur jene »irreführenden Bosheiten«, wie Accius sagt, entstanden. (§ 69.) Denn die Weisheit wüsste nicht, wohin sie den Fuss setzen sollte, wenn alle Pflichten aufgehoben würden, und dies geschah, wenn alle Auswahl und aller Unterschied beseitigt wurden, welche nicht bestehen konnten, sobald alle Dinge einander so gleich gemacht wurden, dass eines nicht mehr, als das andere anzog. Aus dieser Verlegenheit gingen jene Spitzfindigkeiten hervor, die schlimmer waren als die des Aristo; denn dessen Sätze waren noch einfach, die Eurigen sind aber hinterlistig. Denn wenn Du den Aristo fragst, ob er die Schmerzlosigkeit, den Reichthum, die Gesundheit, zu den Gütern rechne, so wird er es verneinen, und auf die Frage, ob deren Gegentheile nicht Uebel seien, wird er auch dies bestreiten. Fragt man aber den Zeno, so wird er zwar mit denselben Worten antworten, aber, wenn man verwundert Beide fragt, wie wir unser Leben führen können, wenn wir es für gleichgültig halten sollen, ob wir gesund oder krank seien, ob wir von Schmerzen frei oder davon gepeinigt werden und ob wir uns gegen Kälte und Hunger schützen können oder nicht, so wird Aristo sagen, dass man grossartig und herrlich lebe, wenn man thue, was Einem beliebe, sich niemals ängstige, niemals begehre und niemals sich fürchte. § 70. Was sagt aber Zeno? Er sagt, das seien Missgeburten des Denkens und man könne unter diesen Bedingungen nicht leben; indess sei der Unterschied zwischen dem Sittlichen und Unsittlichen ein ungeheurer, ich weiss nicht wie grosser, aber unter den übrigen Dingen besteht kein Unterschied. (§ 71.) So weit sagt er dasselbe; aber nun höre und lache nicht, wenn Du es vermagst. Diese mittlern Dinge, sagt er, zwischen denen kein Unterschied bestehe, sind aber doch so beschaffen, dass Einzelnes davon zu wählen. Anderes zu verwerfen und vieles Andere für gleichgültig zu halten ist; d.h. man soll Einzelnes wollen. Anderes nicht wollen und um wieder Anderes sich nicht kümmern. Aber, erwidert man, Du hattest doch eben gesagt, dass in diesen Dingen kein Unterschied bestehe; darauf wird dann Zeno sagen, dass er auch noch jetzt dabei bleibe, denn in den Tugenden und Fehlern bestehe auch kein Unterschied.
Kap. XXVI. (§ 72.) Ich frage, wer hat dies nicht gewusst? Indess höre man weiter. Er sagt, die Gesundheit, der Reichthum, die Schmerzlosigkeit, welche Du genannt hast, nenne ich nicht Güter, sondern auf Griechisch proêgmena, d.h. in Eurer Sprache wörtlich: Vorgezogene; doch möchte ich sie Vorangestellte oder Vorzügliche nennen, da dies erträglicher und gelinder klingt. Ebenso nenne ich die Krankheiten, die Armuth, den Schmerz, nicht Uebel, sondern wenn es gefällt, Zurückgestossene. Deshalb