Kap. VI. (§ 14.) Soviel hiervon; jetzt wende ich mich, wenn es Dir Recht ist, zu dem höchsten Gute, was die ganze Philosophie in sich enthält, um zu sehen, was Zeno hier beigebracht hat, und weshalb er von den ersten Urhebern und gleichsam seinen Eltern abgewichen ist. Ich möchte also hier, obgleich Du, mein Cato, dies höchste Gut sorgfältig erklärt und gezeigt hast, was die Stoiker darunter verstehen und wie sie es näher bestimmen, doch auch meinerseits darüber mich auslassen, um wo möglich zu sehen, was Zeno hier Neues geboten hat. Die Frühere, insbesondere Polemo, hatten am deutlichsten ausgesprochen, dass ein naturgemässes Leben das höchste Gut sei; damit, sagten die Stoiker, werde dreierlei gemeint. Einmal ein Leben mit Anwendung der Kenntniss der Dinge, die sich natürlicherweise zutragen. Dies soll das höchste Gut für Zeno, wie man sagt, gewesen sein, indem er das von Dir genannte naturgemässe Leben so erklärte. (§ 15.) Zweitens bedeute es ein Leben, was alle mittlern Pflichten oder doch die meisten davon einhalte. So aufgefasst, weicht es von dem ersten ab; jenes erste bezeichnet das Rechte, was Du katorthoma nanntest und nur von dem Weisen erreicht wird, während dieses zweite die niedern und noch nicht vollkommnen Pflichten befasst, und dies kann auch bei manchem Unweisen vorkommen. Drittens soll das höchste Gut ein Leben bezeichnen, wo man sich aller oder der meisten Dinge erfreut, die der Natur gemäss sind. Ein solches Leben hängt nicht von unserm Handeln ab; es ist erst erreicht, wenn die Tugend geübt und es mit den naturgemässen Dingen versehen ist, die aber nicht in unsrer Macht stehn. – Das höchste Gut in dieser dritten Bedeutung und ein Leben, was dies höchste Gut enthält, ist, weil die Tugend mit ihm verbunden ist, nur bei dem Weisen vorhanden und dieses höchste Gut haben, wie die Stoiker selbst in ihren Schriften anerkannt haben. Xenokrates und Aristoteles aufgestellt. Von diesen wird die Feststellung des ersten Naturgemässen, womit auch Du begonnen hast, ungefähr mit folgenden Worten gegeben:
Kap. VII. (§ 16.) Jedes Wesen hat den Trieb, sich zu erhalten, unverletzt zu bestehen und sich in seiner Art zu erhalten. Dazu sind nach ihrer Ansicht auch Kunstthätigkeiten erforderlich, welche der Natur zu Hülfe kommen; insbesondere die Kunst des Lebens, welche das von der Natur Gegebene beschützt und das Fehlende erwirbt. Sie haben auch das Wesen des Menschen in Körper und Seele eingetheilt. Da nun beide um ihrer selbst willen begehrenswerth sind, so gilt dies auch von den Tugenden beider, und da sie die Seele in unbegrenztem Lobe über den Körperstellen, so stellten sie auch die Tugenden der Seele über die Güter des Körpers. (§ 17.) Die Weisheit gilt ihnen als die Wächterin und Versorgerin des ganzen Menschen, sie begleitet und unterstützt die Natur. Deshalb ist es die Aufgabe der Weisheit, wenn sie Den schützen solle, der aus Leib und Seele bestehe, auch beides ihm zu erhalten und in beiden zu helfen. Nachdem sie die Sache zunächst so einfach festgestellt haben, führen sie das Weitere mit Scharfsinn aus. Die Lehre über die Güter des Leibes ist nach ihrer Ansicht nicht schwierig; dagegen sind sie genauer in der Untersuchung der Güter der Seele, und sie waren die Ersten, welche fanden, dass die Keime der Gerechtigkeit in ihnen enthalten seien und welche zuerst von allen Philosophen lehrten, die Natur habe es so eingerichtet, dass das Erzeugte von den Erzeugern geliebt werde und dass die Ehe des Mannes mit der Frau, die der Zeit noch vorhergeht, eine von der Natur eingerichtete Verbindung sei; aus dieser Wurzel entspringe die gegenseitige Liebe der Verwandten. Von diesen Anfängen aus haben sie den Ursprung und die Entwickelung aller Tugenden verfolgt. Auch die Seelengrösse leiteten sie davon her, durch welche man die Schicksalsschläge, da die wichtigsten Dinge in der Gewalt des Weisen stehen, leicht abwehren und ihnen entgegentreten könne. Ein nach den Lehren der alten Philosophen geführtes Leben überwindet leicht die Unbill und den Wechsel des Schicksals. (§ 18.) Auf diesen von der Natur gegebenen Grundlagen entwickeln sich gewisse Erweiterungen in den Gütern, die zunächst aus der Betrachtung verborgener Dinge hervorgehen, da der Seele die Liebe zum Wissen angeboren ist, woraus denn auch die Neigung folgt, die Gründe der Dinge aufzusuchen und sie zu erörtern. Ferner geht diese Erweiterung in den Gütern daraus hervor, dass der Mensch das einzige Geschöpf ist, was der Scham und Sittsamkeit fähig ist, was das Zusammenleben und die Gesellschaft der Menschen sucht und überall darauf achtet, dass es weder in seinen Handlungen noch Worten den Anstand und die Sittsamkeit verletze. Aus diesen Anfängen und erwähnten Keimen, welche von der Natur gelegt sind, hat sich die Mässigkeit, die Bescheidenheit, die Gerechtigkeit und alles sittliche Handeln zur Vollkommenheit entwickelt und abgeschlossen.
Kap. VIII. (§ 19.) Hiermit hast Du, mein Cato, sagte ich, einen Abriss der Lehre jener Philosophen, von denen ich gesprochen habe; und nun möchte ich wissen, weshalb Zeno von dieser alten Lehre abgefallen ist und was er nicht davon gebilligt hat. Haben sie denn nicht anerkannt, dass alle Naturen sich zu erhalten streben und dass jedes Wesen für sich selbst sorgt, um sich in seiner Art gesund und unverletzt zu erhalten? Haben sie denn nicht auch anerkannt, dass das Ziel aller Künste und Wissenschaften in dem, was die Natur am meisten aufsucht, bestehe und dass dies auch von der Kunst des ganzen Lebens gelte; und haben sie nicht auch anerkannt, dass wir aus Leib und Seele bestehen und dass diese und ihre Tugenden um ihrer selbst willen zu nehmen seien. Oder hat es Zeno missfallen, dass den Tugenden der Seele ein so grosser Vorzug gegeben worden ist? Oder haben ihm ihre Aussprüche über die Klugheit, die Erkenntniss der Dinge, über die Verbindungen des menschlichen Geschlechts, so wie über die Mässigkeit, Bescheidenheit, über die Seelengrösse und die Sittlichkeit überhaupt missfallen? Die Stoiker werden eingestehen müssen, dass all diese Lehren vortrefflich sind und dass Zeno deshalb keinen Grund gehabt, sich zu trennen. (§ 20.) Sie werden wahrscheinlich sagen, dass andere grosse Irrthümer bei den Alten bestehen, welche Zeno bei seiner Begierde nach Wahrheit nicht habe ertragen können. So sei es ganz verkehrt, unzulässig und thöricht gewesen, die gute Gesundheit, die Freiheit von allem Schmerz, die Unversehrtheit der äussern Sinne zu den Gütern zu rechnen, statt zu sagen, dass zwischen diesen Dingen und ihren Gegentheilen kein Unterschied stattfinde. Alles was jene Alten für Güter erklärt hätten, seien blos vorzuziehende Dinge, aber keine Güter. Ebenso sei es thöricht, ausgezeichnete körperliche Eigenschaften zu dem zu rechnen, was um seiner selbst willen zu suchen sei; man könne sie wohl hinnehmen, aber nicht aufsuchen, und ebenso sei gegen das Leben, was nur in der einen Tugend bestehe, das Leben, was auch an den