Kap. XXVII. (§ 74.) Mittelst derselben glänzenden Worte habt Ihr es zu Königreichen und Macht und so grossen Reichthümern gebracht, dass Ihr sagen könnt, Alles in der Welt gehöre dem Weisen. Er allein soll überdies schön, frei und ein Bürger sein; die Thoren sollen von alledem das Gegentheil sein; ja, Ihr lasst sie sogar verstandlos sein. Ihr nennt das paradoxa wir wollen es Wundersätze nennen. Allein wo bleibt das Wunderbare, wenn man näher hinzutritt? Ich will mit Dir die Dinge, die Du unter jedem dieser Worte begreifst, vergleichen, und es wird sich kein Meinungs-Unterschied herausstellen. Ihr sagt, dass alle Fehler gleich gross seien. Ich mag jetzt mit Dir nicht so scherzen, als es über dieselben Dinge von mir gesah, wie ich den Murena gegen Deine Anklage vertheidigte. Ich musste damals zu Ungelehrten sprechen, auch Etwas der Zuhörerschaft zum Besten geben; jetzt haben wir die Frage eindringender zu erörtern. (§ 75.) Die Fehler sollen gleich sein, aber in welcher Weise? Ihr sagt, weil es über das Sittliche hinaus nicht noch ein mehr Sittliches geben könne. Allein ich bitte fortzufahren, denn hierüber herrscht grosse Meinungsverschiedenheit. Ich müsste die besondern Beweisgründe hören, weshalb alle Fehler gleich gross sein sollen. Ihr sagt: Wenn von mehreren Saiten einer Cither keine so gestimmt ist, dass sie zusammenstimmen, so sind alle gleich missgestimmt, und ebenso weichen alle Fehler gleich ab, eben weil sie abweichen; sie sind deshalb gleich. Allein wir werden hier durch eine Zweideutigkeit getäuscht. Allerdings kann es alle Saiten gleich treffen, dass sie verstimmt sind, aber deshalb sind sie nicht alle gleich verstimmt. Dies Gleichniss kann also nichts beweisen. Denn wenn mehrere Geizige als Geizige sich alle gleich sind, so ist doch ihr Geiz noch nicht bei allen der gleiche. (§ 76.) Aber es kommt noch ein anderes unpassendes Gleichniss. Ihr sagt: Ein Steuermann fehle gleich sehr, mag er ein Schiff mit Spreu oder ein Schiff mit Gold umschlagen lassen; ebenso, fehlt auch Derjenige gleich, welcher seinen Vater und seinen Sclaven widerrechtlich schlägt. Aber seht Ihr nicht, dass es die Kunst des Steuermanns nichts angeht, welche Art von Gütern er geladen hat. – Deshalb hat es auf das gute oder schlechte Steuern keinen Einfluss, ob das Schiff mit Spreu oder mit Gold beladen ist; aber den Unterschied zwischen dem Verwandten und dem Sclaven kann man kennen und soll ihn kennen. Deshalb kommt bei dem Steuern nichts, bei den Pflichten aber viel darauf an, in welcher Art gefehlt wird. Und selbst bei dem Steuermann ist der Fehler, wenn das Schiff durch seine Nachlässigkeit untergegangen ist, grösser, wenn es Gold als wenn es Spreu geladen hatte; denn bei jedem Geschäft verlangt man die Anwendung der gewöhnlichen Klugheit und Vorsicht; Alle, welche ein Geschäft betreiben, müssen sie haben, und deshalb können selbst in diesem Sinne die Fehler nicht als gleich gelten.
Kap. XXVIII. (§ 77.) Allein die Stoiker halten an dem Ausspruch trotzdem fest und wollen in Nichts nachgeben. Da alle Fehler, sagen sie, aus der Schwachheit und Unbeständigkeit hervorgehn und diese Mängel bei allen Thoren gleich gross sind, so müssen auch ihre Fehltritte gleich gross sein. Allein man kann nicht zugeben, dass bei allen Thoren die Mängel gleich gross seien und dass L. Tubulus keine grössere Schwachheit und Unbeständigkeit gezeigt habe, wie P. Scävola, auf dessen Antrag er verurtheilt worden ist. Sollten denn die Dinge, in welchen gefehlt wird, sich gleich stehn, und sollte nicht je nach der Grösse oder Kleinheit derselben auch die bei ihnen begangenen Fehler grösser oder kleiner werden? (§ 78.) So scheinen mir denn, um zum Schluss zu kommen. Deine Stoiker hauptsächlich an dem einen Fehler zu leiden, dass sie glauben, zwei entgegengesetzte Ansichten aufrecht erhalten zu können. Denn kann es einen grössern Widerspruch geben, als wenn man sagt, das Sittliche sei allein ein Gut, und dabei anerkennt, dass die Natur uns das Verlangen nach den dem Leben zusagenden Dingen gegeben habe? Indem sie das festhalten wollen, was mit dem erstem Satze stimmt, treffen sie mit Aristo zusammen, und indem sie wieder dies vermeiden wollen, vertheidigen sie sachlich dasselbe, wie die Peripatetiker, aber verbeissen sich in die Worte. Und indem sie diese nicht aus der Ordnung sich herausnehmen lassen wollen, wird ihre Rede und ihr Benehmen noch abschreckender, rauher und härter. (§ 79.) Panätius, den das Finstre und Rauhe in ihren Aussprüchen verletzte, billigte weder die Bitterkeit ihrer Lehrsätze, noch die Stacheln ihrer Erörterungen; er war dort milder und hier klarer; immer führte er den Plato, Aristoteles, Xenokrates, Theophrast und Dikäarch im Munde, wie seine Schriften ergeben. Ich empfehle Dir jene zum eifrigen, fleissigen und angestrengten Studium. (§ 80.) Doch es naht der Abend, ich muss nach Hause zurückkehren; deshalb schliesse ich für heute, aber hoffe, dass wir unsere Besprechung öfter wiederholen werden. – Ich bin dabei, sagte Cato, denn was kann man Besseres thun? Zunächst erbitte ich mir von Dir die Gefälligkeit, dass Du dann meine Widerlegung gegen Deine heutigen Anführungen anhörest; aber bleibe eingedenk, dass Du Alles billigst, was wir wollen, nur dass wir uns andrer Worte bedienen, während ich von Euren Lehren nichts billigen kann. – Du giebst mir, sagte ich, da ein Bedenken auf den Weg; doch wir werden ja sehn. – Mit diesen Worten trennten wir uns.
Fünftes Buch
Kap. I. (§ 1.) Zu jener Zeit, mein Brutus, als ich mit M. Piso in dem Ptolemischen Gymnasium den Antiochus hörte und mit uns mein Bruder Quintus, T. Pomponius und Lucius Cicero, mein Vetter mütterlicher Seite, aber der Liebe nach mein leiblicher Bruder, verabredeten wir, den Nachmittag einen Spaziergang nach der Akademie zu machen, weil der Ort um diese Tageszeit am wenigsten von der Menschenmenge besucht ist. So versammelten wir uns Alle zur besprochenen Zeit bei Piso, wanderten in mancherlei Gespräch von Dipylus aus die sechs Stadien fort und fanden uns in der Akademie, jenen mit Recht berühmten Räumen, angekommen, so einsam, wie wir wünschten. (§ 2.) Da sagte Piso: Ist es ein Geschenk der Natur oder eine Täuschung, dass man sich bei dem Anblick von Orten, wo merkwürdige Männer sich viel aufgehalten haben sollen, erregter fühlt, als wenn man nur von ihren Thaten hört oder ihre Schriften liest? Eben jetzt empfinde ich es; denn Plato tritt mir vor die Seele, der hier zuerst gelehrt haben soll; seine hier angrenzenden Gärten erinnern mich nicht blos an ihn, sondern stellen mir seine Gestalt selbst gleichsam vor Augen. Hier weilte Speusipp, Xenokrates und sein Schüler Polemo; wir sehen hier den Sessel, worauf er sass. Ebenso ging es mir beim Anblick unseres Versammlungssaals, des Hostilischen nämlich, nicht des neuen, der mir