Kap. XIII. (§ 32.) Wenn also, wie wir eingestehen müssen, ein natürliches Begehren nach den naturgemässen Dingen besteht, so muss man all diese Dinge gleichsam in eine Summe zusammenrechnen. Erst wenn dies geschehen ist, mag man gemächlich über die Grösse der Dinge und ihre Vortrefflichkeit verhandeln und ermitteln, wie viel ein jedes zum glücklichen Leben beitragt, und mag dies selbst auf jene Verdunkelungen ausdehnen, welche einzelne Dinge wegen ihrer Kleinheit erleiden, so dass sie kaum oder gar nicht bemerkt werden. Und wie steht es mit dem, worüber keine Meinungsverschiedenheit herrscht? Denn Niemand wird bestreiten, dass bei allen Naturen das, worauf Alles bezogen wird, ein Aehnliches ist, und zwar das Höchste von allem Begehrenswerthen. Denn jede Natur liebt sich selbst; keine lässt sich, oder einen Theil seiner, oder den Zustand und die Kraft, oder die Bewegung und den Zustand eines seiner Theile oder der naturgemässen Dinge im Stich. Welche Natur hätte wohl auf ihre Grundeinrichtung keine Rücksicht genommen? Und giebt es eine, die dieses ihr Wesen nicht vom Anfang bis zum Ende bewahrt? (§ 33.) Wie sollte daher die menschliche Natur die einzige sein, die sich selbst, d.h. den Menschen, verliesse, seines Körpers vergässe und das höchste Gut nicht in den ganzen Menschen, sondern nur in einen Theil desselben verlegte? Wie wird man es da erreichen, dass für alle Naturen das höchste Gut, um das es sich handelt, das Gleiche sei, was doch die Stoiker selbst wollen und bei Allen feststeht? Es wäre dies nur dann der Fall, wenn auch bei den übrigen Naturen nur das Vorzüglichste in jeder auch das Höchste für jede wäre, wie die Stoiker das höchste Gut bestimmt haben. (§ 34.) Was zögerst Du somit, die Gesetze der Natur zu ändern? Wozu sagst Du, jedes Geschöpf sei von seiner Geburt ab bestrebt, sich zu lieben und mit seiner Erhaltung beschäftiget? weshalb sagst Du nicht vielmehr, jedes Geschöpf sei mit dem, was das Beste in ihm ist, beschäftiget und sorge für dessen Erhaltung allein, und ebenso thäten auch die andern Geschöpfe nichts, als das zu erhalten, was in jedem das Beste ist? Wie kann es aber ein Bestes geben, wo kein Gutes weiter besteht? Wenn aber auch noch Anderes zu erstreben ist, weshalb wird das höchste Ziel nicht als das bestimmt, was alle diese Dinge befasst, oder die meisten und besten? So wie Phidias selbstständig eine Bildsäule beginnen und vollenden kann, aber auch eine von einem Andern begonnene Bildsäule übernehmen und vollenden kann, so verhält es sich auch mit der Weisheit; denn sie hat nicht selbst den Menschen gemacht, sondern hat den angefangenen von der Natur übernommen. Auf diese blickend hat sie das von dieser begonnene Werk, gleich einer Bildsäule, zu vollenden. (§ 35.) Wie hat nun die Natur den Menschen begonnen? Und was ist die Aufgabe und die Arbeit der Weisheit? Was hat sie zu beenden und zu vollenden? Wenn nur eine gewisse Bewegung des Geistes zu vollenden ist, d.h. die Vernunft, so muss für Den, der dies annimmt, das tugendhafte Handeln als das Höchste gelten; denn die Tugend ist die Vollendung der Vernunft. Wenn aber die Vollendung nur auf den Körper zu richten ist, so ist das Höchste die Gesundheit, die Schmerzlosigkeit, die Schönheit u.s.w. Jetzt handelt es sich aber um das höchste Gut des Menschen.
Kap. XIV. (§ 36.) Weshalb zögern wir also, in seiner ganzen Natur Das zu finden, was als Ziel gelten soll? Denn Alle sind einverstanden, dass die Aufgabe und das Amt der Weisheit in der Pflege des Menschen besteht; aber Einige (damit Du nicht denkst, ich spreche blos gegen die Stoiker) stellen Ansichten auf, wonach das höchste Gut in Etwas ausserhalb der Macht des Menschen verlegt wird, als wenn es sich um ein Ding ohne Seele handelte; Andere richten, als wenn der Mensch keinen Körper hätte, ihr Augenmerk nur auf die Seele, obgleich doch die Seele selbst kein solches leeres Etwas ist (ich weiss nicht, was, denn es ist mir unverständlich), sondern eine Art Körper ist, weshalb auch die Seele mit der Tugend allein nicht zufrieden ist, sondern noch die Freiheit von Schmerzen verlangt. Die Vertreter dieser beiden Ansichten gleichen Einem, der die linke Seite des Körpers vernachlässigt und nur die rechte beschützt; oder sie lassen sich, wie Herillus, das Erkenntnissvermögen der Seele angelegen sein, vernachlässigen aber ihr Handeln. Sie lassen Alle Vieles bei Seite und suchen nur Eines hervor, was sie eifrig verfolgen, als wenn ihre Lehre beschnitten worden wäre. Vielmehr kann nur die Ansicht Derer für vollständig und vollendet gelten, welche bei Ermittelung des höchsten Gutes für den Menschen keinen Theil, weder in seiner Seele noch in seinem Körper ohne Fürsorge gelassen haben. (§ 37.) Ihr, mein Cato, habt, weil die Tugend, wie Alle einverstanden sind, die oberste und ausgezeichnetste Stelle bei dem Menschen einnimmt, und weil die Weisen für vollendet und vollkommen gelten, die Schärfe unsres Geistes durch den Glanz der Tugend verdunkelt. Bei jedem Geschöpf giebt es ein Höchstes und Bestes, wie bei den Pferden und Hunden; allein trotzdem wollen sie auch vom Schmerze frei und gesund sein. Ebenso wird auch bei dem Menschen seine Vollkommenheit in dem, was das Beste an ihm ist, nämlich in der Tugend, am meisten gelobt. Daher scheint Ihr mir den Weg der Natur und ihre Entwickelung nicht gehörig zu beachten. Wenn sie bei dem Getreide den Halm, nachdem das Korn gereift ist, verlässt und nicht weiter beachtet, so thut sie doch nicht das Gleiche bei dem Menschen, nachdem sie ihn zu dem Gebrauch der Vernunft geleitet hat. Das Neue tritt bei ihm immer nur in der Weise hinzu; dass das Frühere, was sie gewährt hat, nicht aufgegeben wird. (§ 38.) So fügt sie den Sinnen später die Vernunft bei, aber wenn dies geschehen ist, verlässt sie die Sinne nicht. Wenn z.B. der Weinbau, dem es obliegt, den Weinstock in allen seinen Theilen aufs Beste herzustellen und zu erhalten, wenn man also sich vorstellte (da auch uns eine Erdichtung, wie Euch, zur Belehrung gestattet sein wird), dass dieser Weinbau in dem Weinstock selbst enthalten wäre, so wird er, ebenso wie vorher, für Alles sorgen, was zur Entwickelung des Weinstocks nöthig ist; aber er wird sich selbst über alle Theile des Weinstocks stellen und sich selbst für das Beste in demselben halten; ebenso werden die Sinne, wenn sie der menschlichen Natur hinzutreten, zwar diese, aber auch sich selbst beschützen, und wenn die Vernunft dann noch hinzugetreten ist, so wird ihr eine solche Herrschaft eingeräumt werden, dass alle ersten Triebe der Natur ihrem Schutze untergeben werden. (§ 39.) Sie wird also von deren Pflege nicht ablassen, wenn sie als die Vorgesetzte das ganze Leben leiten soll. Ich kann mich deshalb über die Widersprüche Derer nicht genug verwundern, die das eine Mal anerkennen, dass die Triebe, welche sie hormê nennen, ferner die Pflichten und die Tugenden selbst zu dem Naturgemässen gehören, aber dann bei Aufsuchung des höchsten Guts dies Alles überspringen und uns zwei Aufgaben statt einer setzen; Einiges soll man annehmen, Anderes begehren, während sie vielmehr Beides in ein Ziel hätten zusammenfassen sollen.
Kap. XV. (§ 40.) Ihr sagt indess, dass die Tugend nicht fest begründet werden könne, wenn das ausserhalb der Tugend Liegende auch zum glücklichen Leben gehören solle. Allein dies ist durchaus verkehrt; man kann die Tugend nicht einführen, wenn nicht Alles, was sie erwählen und was sie verwerfen soll, auf ein Höchstes bezogen wird. Wollten wir uns selbst ganz vernachlässigen, so würden wir in die Fehler und Laster des Aristo verfallen und vergessen, welche Grundsätze wir selbst für die Tugend aufgestellt haben; wollten wir aber diese Dinge zwar nicht vernachlässigen, aber doch nicht zu dem Höchsten mit rechnen, so würden wir so ziemlich der Leichtfertigkeit Herill's uns nähern, und wir hätten dann die Einrichtung für zwei Leben zu treffen. Herill stellt nämlich zweierlei höchste Güter auf; wäre dies richtig, so hätten sie vereinigt werden müssen; jetzt werden sie aber getrennt hingestellt; eines oder das andere, was durchaus verkehrt ist. (§ 41.) Deshalb verhält es sich umgekehrt und die Tugend kann nicht begründet werden, wenn sie nicht die ersten Triebe der Natur als zum Höchsten mit gehörig festhält. Man sucht nach einer Tugend, welche die Natur nicht verlässt, sondern sie beschützt; aber die Eure schützt nur einen Theil und vernachlässigt das Uebrige. Die menschliche Natur würde, wenn sie sprechen könnte, sagen, dass ihre ersten gleichsam Griffe im Begehren auf Erhaltung dessen gerichtet gewesen, womit sie auf die Welt gekommen sei. Indess habe ich noch nicht erklärt, was die Natur am meisten verlangt, und ich will es deshalb nachholen. Es ist offenbar nichts Anderes, als dass kein Theil der Natur vernachlässigt werde. Besteht sie nun blos aus Vernunft, so mag das höchste Gut lediglich in der Tugend bestehn; gehört aber auch ein Leib dazu, sollte da wohl die Entwickelung der Natur dahin führen, dass man das vernachlässigt, was man vor dieser Entwickelung besass? Wäre dann das naturgemässe Leben nicht vielmehr