Kap. XVII. (§ 56.) Das, was ich bevorzugt nenne ist theils an sich selbst ein Bevorzugtes, theils bewirkt es etwas Bevorzugtes, theils findet Beides zugleich statt. Zu der erstern Art gehören gewisse Mienen und Gesichtszüge, Stellungen und Bewegungen, bei denen Manches bevorzugt, Anderes verwerflich ist; Anderes heisst bevorzugt, weil es durch sich etwas der Art bewirkt, wie das Geld; Anderes heisst so aus beiderlei Gründen, wie gesunde Sinne und das Wohlbefinden. (§ 57.) Was dagegen den guten Ruf anlangt (denn das, was die Stoiker eudoxian nennen, ist hier besser mit gutem Ruf, als mit Ruhm zu bezeichnen), so meinten Chrysipp und Diogenes, dass, abgesehen von seiner Nützlichkeit, er nicht des Fingeraufhebens werth sei, und dem stimme ich von ganzer Seele bei. Allein spätere Stoiker, die sich gegen Karneadas nicht genügend wehren konnten, nahmen an, dass dieser gute Ruf seiner selbst willen vorzuziehn und zu suchen sei; jeder freie und freisinnig erzogene Mann wolle, dass seine Eltern, seine Angehörigen und alle guten Leute Gutes von ihm sprächen und zwar am der Sache selbst willen und nicht wegen des daraus hervorgehenden Nutzens. So wie man, sagen sie, für seine Kinder sorgen wolle, auch wenn sie erst nach dem Tode geboren werden sollten, und zwar der Kinder wegen, so wolle man auch seinen Ruf selbst nach dem Tode der Sache selbst wegen, abgesehn von allem Nutzen bewahrt wissen. (§ 58.) Wenn wir indess auch nur das Sittliche für ein Gut anerkennen, so ist es doch angemessen, seine Pflichten zu erfüllen, wenn diese auch weder zu den Gütern noch zu den Uebeln gehören. Denn in dergleichen Dingen ist etwas, was Billigung verdient und zwar der Art, dass man den Grund dafür angeben kann; man kann deshalb auch von einer demgemässen Handlung einen Grund angeben, und die Pflicht befasst gerade ein Handeln, für welches ein zu billigender Grund angegeben wurden kann. Hieraus erhellt, dass die Pflichten ein Mittleres sind, was weder zu den Gütern, noch zu den Uebeln gerechnet werden kann, und da in solchen Dingen, die weder zu den Tugenden noch zu den Lastern gehören. Etwas enthalten ist, was nützlich werden kann, so sind sie nicht zu verwerfen. Von dieser Art giebt es nun auch eine Handlungsweise und zwar eine solche, dass die Vernunft verlangt, sie zu thun und zu vollbringen, und diese mit Vernunft gethane Handlung nennen wir Pflicht. Sonach gehören die Pflichten zu den Dingen, die weder unter die Güter noch deren Gegentheil fallen.
Kap. XVIII. (§ 59.) Es ist auch klar, dass in dergleichen mittlern Dingen von dem Weisen Manches geschieht, und wenn dies der Fall ist, so hält er dafür, dass es seine Pflicht sei. Weil er aber niemals in seinem Urtheil sich irrt, so wird die Pflicht zu den mittlern Dingen geboren. Das ergiebt sich auch aus folgendem Vernunftschluss: Wir sehn, dass es Einiges giebt, was man eine rechte Handlang nennt, und das ist die vollkommne Pflicht, also muss es auch eine unvollkommne Pflicht geben. Wenn z.B. die rechte Rückgabe einer in Verwahrung erhaltenen Sache zu den rechten Handlungen gehört, so gehört es zu den Pflichten, das zur Verwahrung Erhaltene zurückzugeben; durch jenen Zusatz: »recht« wird es eine rechte Handlung; an sich gehört das Zurückgeben zu den Pflichten. Da es nun nicht zweifelhaft ist, dass unter den sogenannten mittlern Dingen Manches zu wählen, Anderes zu verwerfen ist, so gehören alle demgemässe Handlungen und Reden zu den Pflichten. Dies er hellt auch daraus, dass Alle sich selbst lieben; deshalb wird der Thor wie der Weise das Naturgemässe ergreifen und das Gegentheilige zurückweisen; mithin sind die Pflichten etwas, was dem Weisen und Thoren gemeinsam ist, und daraus folgt, dass sie zu dem gehören, was wir das Mittlere nennen. (§ 60.) Da nun aus diesem Mittlern alle Pflichten hervorgehn, so sagt man nicht ohne Grund, dass alle unsre Gedanken sich auf es beziehn; und darunter gehört auch der Austritt aus dem Leben oder das Bleiben darin. Der Mensch, in welchem das Naturgemässe überwiegt, hat die Pflicht, im Leben zu bleiben; bei wem aber das Naturwidrige überwiegt öder dies später zu erwarten ist, dessen Pflicht ist es, aus dem Leben zu scheiden. Daraus erhellt, dass auch der Weise mitunter die Pflicht hat, aus dem Leben zu scheiden, obgleich er glücklich ist, und der Thor die Pflicht, im Leben zu bleiben, obgleich er elend ist. (§ 61.) Denn das schon oft genannte Gute und Ueble folgt erst nach, während jene Anfange der Natur, mögen sie gemäss oder entgegengesetzt sein, unter das Urtheil und die Auswahl des Weisen fallen und gleichsam den Stoff der Weisheit bilden. Hiernach ist die Entscheidung, ob man im Leben bleiben oder aus demselben austreten solle, nach allen den oben erwähnten Dingen zu bemessen. Deshalb wird nicht Jeder durch die Tugend im Leben festgehalten; auch haben Die, welchen die Tugend ab geht, den Tod zu suchen. Es ist oft die Pflicht des Weisen, aus dem Leben zu scheiden, wenn er am Glücklichsten ist, sofern dies die Lage der Verhältnisse verlangt, d.h. sofern es einem naturgemässen Verhalten entspricht. So wird von den Stoikern das Rechtzeitige des glücklichen Lebens aufgefasst. Deshalb gebietet die Weisheit, dass der Weise eh selbst, wenn es dient, verlasse, Wenn daher die Laster ihrer Natur nach keinen Grund zum freiwilligem Tode abgeben können, so erhellt, dass auch die Thoren, obgleich sie elend sind, im Leben zu verharren verpflichtet sind, sobald sie nur den grössern Theil der naturgemässen Dinge besitzen. Ueberdem ist der aus dem Leben Scheidende und der darin Bleibende gleich elend, und das längere Leben kann ihn nicht bestimmen, es mehr zu fliehn; deshalb kann man mit Recht Denen, welchen überwiegend das Naturgemässe zu Gebote steht, sagen, dass sie im Leben bleiben müssen.
Kap. XIX. (§ 62.) Nach der Meinung der Stoiker ist es wesentlich, dass man die Liebe der Eltern zu den Kindern als eine natürliche Einrichtung ansehe. Von diesem Anfang gebt die allgemeine Verbindung des menschlichen Geschlechts aus, der wir nachgehn. Dies erkenne man zunächst aus der Gestalt und den Gliedern des menschlichen Körpers, welche selbst zeigen, dass die Natur dabei auf die Fortpflanzung Rücksicht genommen habe, und wenn die Natur die Fortpflanzung wollte, aber für die Liebe des Erzeugten nicht gesorgt hätte, so würde dies nicht mit einander übereinstimmen. Auch an den Thieren könne man die Kraft der Natur erkennen; wenn man sehe, welche Mühe sie bei der Geburt und bei dem Aufziehen der Jungen ertragen, so meine man die Stimme der Natur selbst zu vernehmen. So offenbar wie daher die Natur uns den Schmerz fliehen lässt, so treibt sie uns auch, die Kinder, welche wir erzeugt haben, zu lieben. (§ 63.) Daraus schreibt sich auch jene allgemeine natürliche Zuneigung unter den Menschen als solchen her, so dass jeder Mensch dem Andern, schon weil er ein Mensch ist, nicht als etwas gilt, was ihn nichts anginge. Schon unter den Gliedern erscheinen manche nur für sich gemacht: so die Augen, die Ohren; andere unterstützen auch andere Glieder, wie es die Beine und die Hände thun; in gleicher Weise sind manche wilde Thiere nur für sich selbst geschaffen, während andere Thiere, wie das Thier, was bei der Muschel die Stockmuschel heisst, und das Thier, was aus der Muschel herausschwimmt, und weil es jenes bewacht, Stockmuschelhüter heisst, und von jener, wenn es sich dahin zurückgezogen hat, eingeschlossen wird, gleichsam als hätte es zur Vorsicht ermahnen wollen, ferner die Ameisen, Bienen, die Grashüpfer, Mancherlei auch für andere Thiere vorrichten. Um viel grösser ist diese Verbindung bei dem Menschen, und deshalb sind wir schon von Natur zum Zusammenkommen, zur Vereinigung und zum Staate geeignet. (§ 64.) Die Stoiker nehmen ferner an, dass die Welt durch den Willen der Götter regiert werde; die Welt sei gleichsam die gemeinsame Stadt und der gemeinsame Staat der Menschen und Götter; jeder Einzelne sei ein Theil dieser Welt, und daraus ergebe sich als natürlich, dass man den gemeinsamen Vortheil dem eignen voranstellen müsse. So wie die Gesetze das Wohl Aller dem Wohle Einzelner voranstellen, so sorge ein guter und weiser Mann, der den Gesetzen gehorche und seine bürgerlichen Pflichten kenne, für den allgemeinern Nutzen mehr als für den Nutzen des Einzelnen oder seiner selbst. Der Vaterlandsverräther sei nicht tadelnswerther als Der, welcher das allgemeine Wohl und Heil seinem besondern Wohle und Vortheile opfere. Deshalb sei Der zu loben, welcher dem Tode für den Staat entgegengeht; denn das Vaterland soll uns theurer sein, als wir uns selbst. Mit Recht gilt der Ausspruch Jener für unmenschlich und verbrecherisch, welche sagen, es sei ihnen gleich, ob nach ihrem Tode die Welt und alle Länder in Flammen aufgehen; worüber man einen bekannten griechischen Vers hat. Deshalb ist es sicherlich richtig, dass man auch für die Nachkommen um derer selbst willen zu sorgen habe.
Kap. XX. (§ 65.) Ans diesen Gefühlen sind die Testamente und die Empfehlungen der Sterbenden hervorgegangen. Niemand mag in völliger Einsamkeit sein Leben verbringen, selbst wenn eine Lust ohne Ende damit verbunden wäre, und daraus erhellt deutlich, dass die Menschen zur Verbindung und Gesellschaft mit einander und zum natürlichen