50. Doch was rede ich von mir, der ich in Folge der Verdorbenheit der Sitten und der Zeiten vielleicht selbst auch an den Irrthümern unseres Jahrhunderts nicht geringen Theil nehme? Manius Manilius104 Ueber Manius Manilius s. zu Lälius 4, 14., der zu unserer Väter Zeit lebte, um nicht immer die Curier und Luscinier105 Ueber Manius Curius Dentatus und über Gajus Luscinus Fabricius s. zu Cato 6, 15. im Munde zu führen, war er um's Himmels willen arm106 Ohne Zweifel muß man diese Stelle wegen des Wortes tandem als Frage nehmen: M. Manilius... pauper tandem fuit? Halm und die übrigen Herausgeber lassen das Fragzeichen weg; wie will man aber alsdann tandem erklären? Wyttenbach hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, ist aber von den Herausgebern nicht beachtet worden, auch von Moser nicht, der doch an tandem mit Recht Anstoß genommen hat.? Freilich besaß er nur ein kleines Häuschen in der Carinenstraße107 Die Carinenstraße (carinae) lag an dem Esquilinischen Berge. S. Georges Lat. Wörterb. unter carina. und ein Grundstück im Labicenischen Gebiete108 Labicum war eine kleine Stadt, nicht weit von Rom.. Sind wir etwa reicher, die wir mehr haben? O wäre es doch so! Aber nicht nach der Schätzungsliste, sondern nach der Lebensart und häuslichen Einrichtung wird das Maß des Vermögens bestimmt. 51. Keine Begierden haben ist so gut als Vermögen; nicht kaufsüchtig sein so gut als Einkünfte; mit dem aber, was man hat, zufrieden sein ist der größte und sicherste Reichthum.
Denn wenn jene klugen Abschätzer der Güter gewisse Wiesen und Grundflächen hoch abschätzen, weil dieser Art von Besitzungen am Wenigsten, so zu sagen109 minime quasi noceri potest. An dem Worte quasi, das ich durch »so zu sagen« übersetzt habe, haben die Herausgeber großen Anstoß genommen, und mehrere von ihnen halten dasselbe für verderbt. Das Wort quasi ist aber von Cicero mit seinem Gefühle zu dem Verb nocere hinzugesetzt, da nocere im strengen und eigentlichen Sinne des Wortes nur von Personen, nicht aber von Sachen gebraucht werden kann. , geschadet werden kann; wie hoch muß die Tugend geschätzt werden, die nicht entrissen oder heimlich entwendet werden kann, nicht durch Schiffbruch oder Feuersbrunst verloren geht, nicht durch stürmische Witterung oder durch Wirren der Zeitverhältnisse verändert wird! Diejenigen also, welche sie besitzen, sind allein reich. 52. Denn sie allein besitzen sowol gewinnreiche als ewig dauernde Güter, und sie allein sind – und dies ist das wesentliche Merkmal des Reichthums – mit dem Ihrigen zufrieden; sie begnügen sich mit dem, was sie haben, sie trachten nach Nichts, sie entbehren Nichts, sie empfinden keinen Mangel, sie vermissen Nichts. Schlechte und habsüchtige Menschen hingegen, weil sie ungewisse und vom Zufall abhängige Besitzungen haben und immer nach Mehr trachten, und sich unter ihnen noch Keiner gefunden hat, der sich mit dem begnügt, was er hat, sind nicht für begütert und reich, sondern sogar für unbemittelt und arm zu halten.
1 S. ebendaselbst p. 148 sq.
2 S. Moser Proleg. ad Parad. XXXVI sq.
3 S. Prooem. §. 2.
4 Prolegom. ad Parad. p. XXXVII sq.
5 Marcus Porcius Cato, der Jüngere, der später den Beinamen Uticensis erhielt, weil er sich nach der Schlacht bei Pharsalus in Utika, einer Stadt in Afrika, entleibte (46 v. Chr.), um nicht den Verlust der Freiheit seines Vaterlandes zu überleben. Er war der Urenkel des Marcus Porcius Cato Censorius und, wie Anm. 1 erwähnt wurde, der Bruder der Servilia, der Mutter des Brutus.
6 Ich habe hier absichtlich ein fremdes Wort gebraucht, weil auch Cicero sich des Griechischen Wortes haeresis bedient hat.
7 Ueber die Stoiker vergleiche außer der eben angeführten Stelle des Brutus Cicer. de Orat. III. 18, 65 sq. de Fin. IV. 3, 7.
8 Ebenso Cicer. Academ. II. 44, 138: sunt enim Socratica pleraque mirabilia stoicorum, quae παράδοξα nominantur.
9 Marcus Junius Brutus, Sohn des Marcus Junius Brutus, eines Rechtsgelehrten, und der Servilia, einer Schwester des Cato Uticensis, einer der Mörder Cäsar's. Er beschäftigte sich viel mit Philosophie und gab auch eine Schrift über die Tugend, eine über die Pflichten und eine über die Geduld heraus. Diese Schriften sind alle untergegangen. Er war ein Anhänger der alten Akademie. Ihm hat Cicero außer dieser Schrift auch die fünf Bücher der Tusculanen, die fünf Bücher von dem höchsten Gute und Uebel, die drei Bücher von dem Wesen der Götter und den Redner gewidmet, sowie auch die Schrift von den berühmten Rednern nach ihm Brutus genannt.
10 θετικά, d. h. eigentlich: was sich zum Setzen, Aufstellen (nämlich von Sätzen) schickt. Wie in den Schulen der Philosophen, so wurden nach deren Vorgange auch in den Schulen der Rhetoren zur Einübung der gegebenen Lehren Vorträge (μελέται, declamationes) gehalten. Zu diesen Vorträgen wählte man theils die Behandlung der sogenannten unbestimmten Fragen (θέσεις, quaestiones infinitae) über einen Gegenstand im Allgemeinen ohne Rücksicht auf bestimmte Personen und Zeiten, z. B. »Genügt die Tugend allein zur Glückseligkeit«, theils die Behandlung der sogenannten bestimmten Fragen (ηποθέσεις, quaestiones finitae) über einen bestimmten Gegenstand mit Rücksicht auf bestimmte Personen und Zeiten, z. B. »Soll man beschließen, daß wir von den Karthagern unsere Gefangenen gegen Rückgabe der ihrigen annehmen.« S. unsere Einleitung zu Cicero's drei Büchern von dem Redner S. 6.
11 Nach der, auch von Halm aufgenommenen, Muthmaßung Ochsner's und Madvig's absint statt des handschriftlichen obsint, was einen verkehrten Sinn gibt.
12 lentius. Ohne Grund muthmaßt Ruhnken diligentius
13 Nach den Worten: vita atque factis illustrata sunt summorum virorum folgt in den Handschriften der Zusatz: haec quae verbis substilius quam satis est disputari videntur, der mit Recht nach Gruter's Vorgange von Halm als ein Glossem in Klammern eingeschlossen ist.
14 Ich interpungire mit Orelli: Quid? a Numa Pompilio? Minusne etc. Halm dagegen so: Quid? a Numa Pompilio minusne etc.
15 felicatas oder filicatas von filix, Farnkraut. Es sind also Schalen zu verstehen, die mit erhabener Arbeit in der Gestalt von Farnkrautblättern geschmückt waren.