Als er hinter dem Türvorhang angelangt war, hörte er innen ein lautes Schluchzen. Er horchte erschreckt eine Weile – es nahm ab und verstärkte sich, wie bei jemand, der recht leidenschaftlich weint. Wer das sei, konnte er an der Stimme nicht erkennen. Nun schlug er den Vorhang zurück und trat einen Schritt vor. In der Fensternische stand Natalia, beide Hände gegen das Gesicht gedrückt, so daß der Kopf mit dem lockigen Haar in den Nacken gesenkt war. Sie war die Weinende.
Er machte in der Überraschung eine hastige Bewegung vorwärts, die ihn verriet. Sie schrak sichtlich zusammen, riß die Hände von den Augen und starrte ihn ganz verwirrt an. Aber nur einen Augenblick. Dann zuckten alle Muskeln, die Augen blitzten, der Mund öffnete sich wie zu einem jauchzenden Lachen. Ihr seid's, rief sie und eilte ihm entgegen, Ihr seid's! O mein Gott, wie ich in Angst um Euch war!
Er ergriff ihre Hände, die sie ihm entgegenstreckte. Natalia, sagte er verwundert, was ist geschehen? Weshalb diese Tränen?
Weshalb –? Ich kam hinauf, rief und erhielt keine Antwort – ich trat ein und fand das Gemach leer … Er fing an zu begreifen. Und Ihr fürchtetet –? Ihre Hände zitterten in den seinen, die Tränen strömten
wieder über die Wangen, sie beugte sich vor und senkte zugleich den Kopf, als wollte sie hindern, daß er ihr glutrotes Gesicht sehe. Fragt nicht – sagte sie leise und doch mit leidenschaftlichem Ausdruck. Wenn Ihr fortgegangen wäret –
Er zog sie bewegt näher an sich heran. Wie durfte ich? fiel er ein. Ich bin ja Euer Gefangener!
Sie machte gewaltsam ihre Hände frei, fiel ihm stürmisch um den Hals, richtete sich an seiner Brust auf und bedeckte seinen Mund mit feurigen Küssen. Ja – mein, mein, rief sie, mein!
Er hielt die schlanke Gestalt in seinen Armen und drückte sie fest an sich. Sein Blut fing an heißer zu wallen – sein Herz klopfte an ihrem Busen, er erwiderte ihre Küsse. Es kam eine Trunkenheit über ihn wie von feurigem Wein; seine Hände wühlten sich in ihr Haar, seine Augen sprühten Blitzfunken; er lallte unverständliche Worte.
Plötzlich fühlte er seine Lippen von ihren scharfen Zähnen gebissen, daß er zurückzuckte. Sie riß sich los und eilte fort. Nun weißt du alles –! rief sie, und verschwand hinter dem Vorhang.
Er blieb wie betäubt stehen. Der Kopf schwindelte ihm; er hatte die Empfindung, daß die Stirnwunde wieder aufbrechen müßte, so trieb das Blut hinein. Wirklich taumelte er zur Seite und sank aufs Bett.
Dort lag er lange Zeit, halb wachend, halb träumend. Es war ihm, als fühlte er noch immer den warmen Leib, den feurigen Atem. Er hörte ein Schluchzen und Jauchzen – hinter dem Türvorhang her klang es ihm noch immer: Nun weißt du alles! Ja, er wußte nun alles –: er war geliebt. Und mit welcher Leidenschaft geliebt!
Er berauschte sich in der Erinnerung an die Minuten seligen Genusses. Er dachte nicht, er schwelgte in Empfindungen, die immer unbestimmter und verschwommener wurden. Er hatte den Kopf in das Kissen gedrückt und die Augen geschlossen. Bald bemächtigte sich eine tiefe Mattigkeit aller seiner Glieder – er schlief ein.
Recht verwundert blickte er um sich, als er gegen Mittag erwachte. Es dauerte eine Weile, bis er sich mit seinen Gedanken in die Wirklichkeit fand. Die Lippe schmerzte ihn; sie war ein wenig angeschwollen. Das erinnerte ihn wieder lebhafter an die Küsse des reizenden Mädchens. Aber er hatte jetzt nicht dabei das Gefühl vollkommenen Wohlseins, berauschenden Entzückens. Warum hat sie dir weh getan? mußte er denken. Es kam ihm jetzt nicht die Vorstellung, daß er geliebt sei, nur daß er einen Augenblick etwas sehr Wonniges genossen hätte. Und die Lippe schmerzte ihn.
Er trat ans Fenster und schöpfte Luft. Unten im Schnee am Grabenrande bewegte sich eine dunkle Masse. Es war der Vogel, der nicht sterben konnte und noch immer versuchte, sich aufzurichten. Heinz sah diesen Bemühungen zu, ohne jetzt etwas wie Mitleid zu empfinden. Es war grausam, das Tier nicht zu töten; aber es kam ihm jetzt gar nicht in den Sinn, noch einen zweiten Pfeil auf die Armbrust zu legen oder nach seiner Beute auszugehen.
Ein Diener brachte ihm das Mittagbrot. Sonst hatte Natalia ihm den Tisch bereitet, nun blieb sie aus, so lange er auch wartete. Das Essen schmeckte ihm nicht, und er ließ die zweite Schüssel unberührt.
Sie kam auch den ganzen Nachmittag nicht. Abends trat der Kaplan zu ihm ein, aber dessen Gesellschaft behagte ihm so schlecht, daß er ihm nur mürrische Antworten gab und ihn bald damit verscheuchte. Es dunkelte früh, und niemand brachte ihm Licht. Unmutig ging er im Gemach auf und ab, die Hände in die Pelzärmel gesteckt; nie vorher hatte er es so kalt und unbehaglich gefunden.
Die Stunden schlichen hin. Er wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte, hatte nicht einmal recht den Mut, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. So dunkel es um ihn war, so dunkel wurde es nun auch in ihm, und er hatte das Gefühl, als ob er sich fürchten müsse auszuschreiten, weil er gegen eine Wand stoßen oder in eine Grube fallen würde. Lange vor der gewohnten Zeit suchte er sein Lager auf, aber es fehlte ihm das Bedürfnis des Schlafes ganz und gar. So wälzte er sich herum. Als er endlich doch einschlief, hatte er einen beängstigenden Traum. Er war in der Kapelle und kniete vor dem wundersamen Muttergottesbilde, die Augen zu demselben hoch aufgerichtet. Dieses braune Weib war gar nicht die Jungfrau Maria, zu der er sonst so andächtig gebetet hatte, und es war auch jetzt nicht Andacht, was ihn bewegte. Sein Herz fragte nur immer, ob es schön und begehrenswert sei in ihrer Eigenart, wie ihm bisher nichts Weibliches erschienen war. Und nun wurden diese sonderbaren Augen lebendig und winkten ihm, die vollen Lippen schienen sich zu bewegen und zu sprechen. Du weißt nun alles – hörte er ganz deutlich, aber es war ihm nicht gewiß, ob es von dem Bilde kam. Er richtete sich auf und horchte aufmerksamer. Die Augen winkten noch lebhafter. Es war nun gar nicht ein Bild, das vor ihm stand, sondern ein Weib, das sich aus dem Rahmen lehnte und ihn zu sich lockte. Er kletterte auf den Tisch und warf dabei die Weihegeschenke hinab – Hände, Füße und Herzen von Wachs. Er achtete nicht darauf. Ein wahnsinniges Verlangen erfaßte ihn, diesen Mund zu küssen. Nun stand er dem Weibe Auge gegen Auge, beugte sich, drückte einen Kuß … Da empfand er einen stechenden Schmerz in der Lippe, taumelte zurück, fiel aus der Höhe herab auf den Steinboden nieder. Darüber wachte er auf.
Der Morgen graute schon. Er hörte den Kaplan unten in der Kapelle singen. Der Traum war ihm ganz gegenwärtig, und ihm grauste nun vor der Madonna aus Byzanz. Gerade deshalb aber entschloß er sich, aufzustehen und in die Kapelle hinabzugehen, ein Gebet zu verrichten. Diese wüsten Gedanken und Vorstellungen waren ihm lästig, er wollte sie los sein. Der Pater freute sich seines frommen Eifers.
Auch an diesem Tage ließ Natalia sich im Turmstübchen nicht blicken. Was hatte das Mädchen nur? So zärtlich und dann so gleichgültig! War sie gekränkt? Aber wodurch? Er sann vergeblich darüber nach. Schämte sie sich, weil sie ihn in die Lippe gebissen hatte? Es war häßlich, daß er an ihre Küsse nicht denken konnte, ohne die spitzen, kleinen Zähne zu fühlen. Vielleicht hatte sie ihm absichtlich dieses Andenken an sich gelassen.
Gegen Abend kam der Pater und wurde jetzt freundlicher empfangen. Er selbst fing von Natalia zu sprechen an. Was nur in das Fräulein gefahren sei? Der Kranke scheine ganz vergessen zu sein.
Ich bin nicht mehr krank, antwortete Heinz, um nur in seiner Verlegenheit etwas zu sagen.
So seid Ihr's auch vorgestern nicht gewesen, meinte der Pater. Es bleibt auffällig, daß sich das Fräulein so plötzlich zurückgezogen hat. Habt Ihr einen Streit gehabt, Junker?
Wahrlich nicht. Ganz im Gegenteil …
Ah! Ihr habt sie durch Eure Zudringlichkeit beleidigt. Ich fürchtete längst –
Auch das kann ich nicht glauben. Wir schieden meines Denkens als sehr gute Freunde.
Freunde –?
Heinz senkte die Augen. Ich mag Euch heute nicht beichten, Pater Stanislaus. Vielleicht ein andermal. Sagt mir lieber, ob Ihr Natalia gesehen habt und was sie ohne mich treibt.
Ich habe sie gesehen, gestern und heute, Junker. Und was sie treibt? Das ist mir eben das merkwürdige. Sie gibt sich in allem wieder geradeso