Wissen Sie, warum ich in meinem Betragen gegen Sie verändert schien? Glauben Sie mir, nicht weil mein Herz nicht noch immer das nämliche wäre, sondern weil Ihre Lage eine andere geworden ist. Ich begünstigte Ihre Liebe, so lange noch ein Fünkchen Hoffnung übrig war; seit die Sache aber so liegt, daß Ihr Streben nach Julien, wenn Sie dabei beharren, nur dazu dienen kann, Julie unglücklich zu machen, würde ich zu Ihrem Schaden handeln, wenn ich Ihnen zu Gefallen handelte. Ich will Sie lieber weniger beklagenswerth wissen, wenn auch mehr Ihre Unzufriedenheit gegen mich erregen. Wenn ein gemeinsames Glück nicht mehr möglich ist, bleibt dann der hoffnungslosen Liebe etwas Anderes übrig, als das eigene Glück im Glücke des geliebten Gegenstandes zu suchen?
Sie fühlen das nicht blos, mein großmüthiger Freund, Sie thun mehr, Sie machen es zur That in dem schmerzlichsten Opfer, das je ein treuer Liebhaber gebracht hat. Indem Sie auf Julie verzichten, erkaufen Sie ihre Ruhe mit der Ihrigen, und verzichten ihretwegen auf Ihr eigenes Ich.
Ich getraue mir kaum, Ihnen die wunderlichen Ideen zu sagen, die mir hierüber kommen, aber sie sind tröstlich und das macht mir Muth es zu thun. Erstlich, ich glaube, daß die wahre Liebe ebenso wie die Tugend den Vortheil mit sich bringt, daß sie für jedes Opfer entschädigt und daß die Entbehrungen, die wir uns auflegen, gewissermaßen zu einem Genusse werden eben dadurch, daß wir fühlen, wie viel sie uns kosten, und um des Beweggrunds willen, der uns dazu treibt. Sie werden sich das Zeugniß geben, daß Julie von Ihnen geliebt ward, wie sie es verdiente, Sie werden sie um deswillen noch mehr lieben und werden sich darin glücklich fühlen. Jene feinere Eigenliebe, die alle saueren Tugendübungen zu vergüten weiß, wird in den Reiz der Liebe den ihrigen mischen. Ich bin fähig zu lieben, werden Sie sich mit einem Vergnügen sagen, das dauerhafter und zärterer Natur ist als jenes, das Sie empfinden würden, wenn Sie sich sagten: Ich besitze, was ich liebe. Denn dieses letztere nutzt sich im Genusse ab, jenes andere aber bleibt ewig, und Sie würden sein noch genießen, selbst wenn Sie nicht mehr liebten.
Ferner dann, wenn es wahr ist, was Julie und Sie mir so oft gesagt haben, daß die Liebe das köstlichste Gefühl ist, das in die Menschenbrust einziehen kann, so ist Alles, was dasselbe dauernder macht und sicher stellt, selbst um den Preis von Schmerzen, immer noch ein Gut. Wenn die Liebe ein Verlangen ist, das sich durch Hindernisse steigert, wie Sie ebenfalls sagten, so ist es nicht gut, daß es befriedigt werde; es ist vielmehr besser, daß es durch Verfehlung seines Ziels erhalten bleibe, als daß es im Schooße der Freuden ersterbe. Eure Liebe hat zwar die Probe des Besitzes, die Probe der Zeit, der Trennung, der Leiden aller Art bestanden: sie hat alle Hindernisse besiegt, außer dem mächtigsten von allen, nämlich dem, keine mehr zu besiegen zuhaben und sich einzig aus sich selbst ernähren zu müssen. Die Welt hat noch nie eine Leidenschaft diese Probe überstehen sehen: welches Recht habet ihr zu hoffen, daß es der eurigen gelingen werde? Zu dem Ueberdrusse, den langer Besitz stets erzeugt, würde die Zeit den Fortschritt des Alters und den Verfall der Schönheit hinzugefügt haben: sie nimmt nun dadurch, daß ihr getrennt werdet, den Schein an, als bliebe sie stehen; ihr werdet einander stets in der Blüte der Jahre vor Augen haben; ihr werdet euch ohne Ende so sehen, wie ihr euch bei eurem Scheiden sahet, und euere Herzen, vereinigt bis an's Grab, werden in reizender Täuschung mit eurer Liebe eure Jugend in's Unendliche ausdehnen.
Wenn ihr nicht glücklich gewesen wäret, so könnte euch vielleicht eine unüberwindliche Unruhe quälen; euer Herz würde um die Güter seufzen und sich härmen, die es zu erlangen verdiente; eure erhitzte Einbildungskraft würde euch ohne Unterlaß die nichterlangten abfodern. Aber die Liebe hat keine Wonnen, mit denen sie euch nicht überschüttet hätte, und, um mit Ihnen zu reden, ihr habt im Laufe eines Jahres die Freuden eines ganzen Lebens erschöpft. Erinnern Sie sich jenes so leidenschaftlichen Briefes, am Tage nach einer vermessenen Zusammenkunft geschrieben; ich habe ihn mit einer bis dahin mir unbekannten Gemüthsbewegung gelesen: es ist darin nicht der stetige Zustand einer weichen Seele zu erkennen, sondern das letzte Auflodern eines liebentbrannten und freudetrunkenen Herzens; Sie sprechen selbst das Urtheil aus, daß man dergleichen Verzückungen nicht zweimal in seinem Leben erführe und daß man sterben sollte, nachdem man sie erlebt. Mein Freund, dies war der höchste Gipfel, und was auch Schicksal und Liebe für Sie noch gethan hätten, Ihre Glut und Ihr Glück konnten von da an nur noch niedersteigen. Dies war nun auch der Anfang Ihres Mißgeschickes, und Ihre Geliebte wurde Ihnen in dem Augenblicke genommen, als sie Ihnen keine neuen Empfindungen mehr zu kosten geben konnte; gleich als hätte das Geschick Ihr Herz vor der unausbleiblichen Sättigung behüten und Ihnen in der Erinnerung der vergangenen Genüsse einen Genuß lassen wollen, süßer als alle, die Ihnen noch im Leben zu Theil werden könnten.
Trösten Sie sich über den Verlust eines Gutes, das Ihnen immer doch entronnen wäre, und noch überdies Ihnen das geraubt hätte, welches Ihnen bleibt. Glück und Liebe würden mit einander entflogen sein; Sie haben wenigstens das Liebesgefühl behalten; man ist nicht ohne Freuden, wenn man noch liebt. Die Vorstellung einer erloschenen Liebe ist für ein zärtliches Herz schrecklicher als die der unglücklichen Liebe und der Ueberdruß an dem, was man besitzt, ist ein tausendmal schlimmerer Zustand als der Schmerz um das, was man verloren hat.
Wenn die Vorwürfe, welche sich meine Cousine in ihrer tiefen Betrübniß über den Tod ihrer Mutter macht, gegründet wären, so würde freilich dieses grausame Andenken das Andenken euerer Liebe vergiften, ja ein so unseliger Gedanke müßte sie auf ewig auslöschen; aber schenken Sie dem, was ihr Schmerz ihr eingiebt, keinen Glauben; dieser Schmerz täuscht sie, oder vielmehr der eingebildete Grund, mit welchem sie ihn sich vergrößert, ist nur ein Vorwand, um sein Uebermaß zu rechtfertigen. Diese zärtliche Seele fürchtet immer sich nicht genug zu betrüben, und es gewährt ihr eine Art Befriedigung, das Gefühl ihres Kummers durch Alles, was ihn nur schärfen kann, zu steigern, Sie macht sich einen Schein vor, glauben Sie mir, sie ist nicht aufrichtig gegen sich selbst. Ach! wenn sie in allem Ernste glaubte, die Tage ihrer Mutter verkürzt zu haben, könnte dann ihr Herz die furchtbaren Bisse des Gewissens aushalten? Nein, nein, mein Freund! Dann würde sie nicht um sie weinen, sie würde ihr nachgefolgt sein. Woran Frau von Étange gelitten hat, wissen wir ganz gut; es war eine unheilbare Brustwassersucht, und sie war von den Aerzten aufgegeben, schon ehe sie Ihre Briefe entdeckt hatte. Diese Entdeckung war ein Gegenstand großen Kummers für sie, aber wie viel stille Freude machte das Unheil wieder gut, das dieselbe ihr zugefügt haben konnte! Wie tröstlich war es für diese zärtliche Mutter, zu sehen, indem sie über die Fehltritte ihrer Tochter seufzte, durch wie viel Tugenden dieselben ausgeglichen wurden, und indem sie ihre Schwäche beweinte, ihr Gemüth bewundern zu müssen! Wie süß war es ihr, zu fühlen, wie heiß sie von ihr geliebt ward! Dieser unermüdliche Eifer! diese unausgesetzte Sorgfalt! diese stete Beflissenheit! diese Verzweiflung, ihr Kummer gemacht zu haben! diese Reue! diese Thränen! diese rührenden Liebkosungen! dieses unversiegliche Mitgefühl! In den Augen der Tochter las man Alles, was die Mutter litt; sie war es, die sie am Tage bediente. Nachts bei ihr wachte; von ihrer Hand empfing sie allen Beistand. Man hätte meinen sollen eine andere Julie zu sehen; ihre natürliche Weichlichkeit war verschwunden, sie war rüstig und stark, die beschwerlichsten Dienstleistungen wurden ihr nicht sauer, und ihre Seele schien ihr einen neuen Körper gegeben zu haben. Sie that Alles und schien nichts zu thun; sie war überall und rührte sich nicht von der Seite ihrer Mutter; man sah sie fortwährend vor ihrem Bette knieen, den Mund auf ihre Hand gedrückt, seufzend entweder über ihren Fehltritt oder über der Mutter Leiden und diese beiden Empfindungen vermischend zu noch tieferer Betrübniß. Niemanden sah ich in den letzten Tagen das Zimmer meiner Tante betreten, den nicht dieser mehr als Alles ergreifende Anblick zu Thränen gerührt hätte. Man sah, wie diese beiden Herzen ihre Kraft aufboten, sich inniger zu vereinigen im Augenblicke des traurigen Scheidens; man sah, daß Mutter und Tochter nichts beschäftigte als das Weh, sich von einander gerissen zu sehen, und daß Leben oder Tod ihnen gleichgültig gewesen wäre, wenn sie nur mit einander hätten bleiben oder scheiden können.
Lassen Sie sich also durch Juliens finstere Gedanken nicht im entferntesten bestechen, und seien Sie überzeugt, daß Alles, was man von menschlicher Hülfe und von Herzenstrost erwarten kann, von ihrer Seite dazu gewirkt hat, den Fortschritt der Krankheit ihrer Mutter zu hemmen, und daß zuverlässig ihre Zärtlichkeit und ihre Pflege sie uns länger erhalten haben, als es ohnedem möglich gewesen wäre. Mein, Tante selbst hat mir hundertmal gesagt,