Ihre barbarische Hand hat es also dreist zerrissen, dieses süße Band, das sich unter Ihren Augen fast von Kindheit auf geknüpft hatte und an welchem Ihre Freundschaft mit so großer Freude Theil zu nehmen schien! Also ich bin nun so elend, als Sie mich haben wollen und als ich es nur werden konnte! Ach, kennen Sie den Umfang des Unheils, das Sie stifteten? Fühlen Sie wohl, daß Sie mir die Seele ausreißen, daß es für das, was Sie mir rauben, keinen Ersatz giebt, und daß es tausend Mal besser ist, zu sterben als nicht für einander zu leben? Was reden Sie mir von Juliens Glück? Kann es eines für sie geben, ohne daß das Herz zufriedengestellt sei? Was reden Sie mir von der Gefahr ihrer Mutter? Ach, was ist das Leben einer Mutter, meiner, Ihrer, Juliens selbst, was ist das Dasein der ganzen Welt gegen das köstliche Gefühl, das uns vereinte? Sinnlose, unmenschliche Tugend! ich gehorche deiner Stimme ohne mein Verdienst; ich verabscheue dich, während ich Alles deinetwegen thue. Was sind die leeren Trostgründe gegen die lebendigen Schmerzen der Seele? Geh, trübseliges Götzenbild der Unglücklichen, du vermehrest nur ihr Elend, indem du ihnen die letzten Mittel raubest, die das Glück ihnen gelassen hat. Doch, ich will gehorchen; ja, Grausame, ich will gehorchen; ich will fühllos werden, wenn es möglich ist, und unmenschlich wie Sie. Ich will vergessen mein Alles, das Einzige, was mir auf der Welt theuer war. Ich will nie mehr hören, noch aussprechen, weder Juliens Namen, noch den Ihrigen. Ich will es mir nie wieder zurückrufen, das unerträgliche Andenken. Ingrimm, unbändiger Zorn macht mich hart gegen dieses zu schwere Geschick, Verstocktheit soll mir den Muth ersetzen. Es hat mich zu viel gekostet, ein fühlendes Wesen zu sein; besser der Menschlichkeit entsagen!
Vierter Brief.
Frau v. Orbe an Juliens Liebsten.
Sie haben mir einen betrübenden Brief geschrieben, aber in Ihrem Handeln ist so viel Liebe und Tugend, daß man die Bitterkeit in Ihren Klagen darüber vergißt; Sie sind zu großmüthig, als daß man den Muth haben könnte, mit Ihnen zu schelten. Mag man noch so hitzig auffahren, wenn man es so versteht, sich dem geliebten Gegenstande zum Opfer zu geben, so verdient man mehr Lob als Vorwürfe, und Ihren kränkenden Worten zum Trotz waren Sie mir nie so theuer, als seitdem ich so ganz erst Ihren Werth kenne.
Danken Sie der Tugend, die Sie, wie Sie sagen, hassen, und die mehr für Sie thut, als Ihre Liebe selbst. Uns alle, die Tante nicht ausgenommen, haben Sie verführt durch ein Opfer, dessen Werth auch sie ganz fühlt. Sie hat Ihren Brief nicht ohne tiefe Rührung lesen können; sie hat sogar die Schwachheit gehabt, ihn ihrer Tochter sehen zu lassen, und die Anstrengung, welche die arme Julie machte, beim Lesen ihre Seufzer und ihre Thränen zurückzuhalten, zog ihr eine Ohnmacht zu.
Die zärtliche Mutter, die schon Ihre Briefe tief bewegt hatten, fängt nach Allem, was sie sieht, zu merken an, wie sehr eure beiden Herzen außer der gewöhnlichen Regel sind, und wie sehr eure Liebe einen Charakter von natürlicher Seelengemeinschaft an sich hat, den die Zeit und menschliche Bemühungen nicht vertilgen werden, Sie, die selbst so sehr des Trostes bedarf, möchte gern ihre Tochter trösten, wenn der Wohlstand sie nicht zurückhielte, und ich sehe sie zu nahe daran, ihre Vertraute zu werden, als daß sie nicht mir verzeihen sollte, es gewesen zu sein. Sie ließ sich gestern so weit gehen, daß sie in ihrer Gegenwart, vielleicht ein wenig unbehutsam [Ei, Clara, sind Sie hier denn weniger unbehutsam? Und wird es das letzte Mal sein, daß Sie es sind?], sagte: Ach, wenn es nur von mir abhinge ....! Obgleich sie an sich hielt und nicht ausredete, sah ich an dem heißen Kuß, den Julie auf ihre Hand drückte, daß sie sie nur zu wohl verstanden hatte. Ich weiß sogar daß sie mehrmals mit ihrem unbeugsamen Gatten hat reden wollen, aber fürchtete sie nun, ihre Tochter der Wuth eines erzürnten Vaters auszusetzen oder fürchtete sie für sich selbst, ihre Aengstlichkeit hat sie immer davon zurückgehalten, und ihre Schwäche, ihr Leiden nimmt so sichtlich zu, daß ich fürchte, sie wird außer Stande sein, ihren Entschluß auszuführen, noch ehe sie ihn recht gefaßt hat.
Wie dem sei, trotz der Fehltritte, an denen Sie Schuld sind, hat die Redlichkeit der Schmerzen, die sich in eurer beider Liebe kund giebt, ihr eine solche Meinung von Ihnen beigebracht, daß sie sich auf euer beiderseits gegebenes Wort, den Briefwechsel abzubrechen, verläßt, und keine Anstalt gemacht hat, ihre Tochter sorgsamer zu bewachen. In der That, wenn Julie ihr Vertrauen nicht rechtfertigte, würde sie ihrer Liebe nicht mehr werth sein, und man müßte euch beide erwürgen, wenn ihr fähig wäret, noch einmal die beste der Mütter zu betrügen und die Achtung zu mißbrauchen, die sie euch zollt
Es ist nicht meine Absicht, eine Hoffnung in Ihrem Herzen wieder zu entzünden, die ich selbst nicht hege, ich will Ihnen nur zeigen, wie wahr es ist, daß das Rechtschaffenste auch immer das Klügste ist und daß, wenn Ihrer Liebe noch irgend eine Aussicht bliebe, sie aus der Seite des Opfers liegt, das Ehre und Vernunft von Ihnen heischen. Mutter, Verwandte, Freunde, Alles ist jetzt für Sie, nur der Vater nicht, den man nie gewinnen wird oder allein auf diesem Wege. Was für eine Verwünschung Ihnen auch ein Augenblick der Verzweiflung auspreßt, Sie haben uns tausend Mal bewiesen, daß kein Weg sicherer zum Glücke führt, als der der Tugend. Erreicht man es, so ist es durch sie reiner, dauernder und süßer; verfehlt man es, so kann nur sie entschädigen. Fassen Sie also wieder Muth, seien Sie Mann, seien Sie wieder Sie selbst. Wenn ich Ihr Herz recht erkannt habe, so würde die schlimmste Art, Julien zu verlieren, für Sie die sein, wenn Sie unwerth wären, sie zu erhalten.
Fünfter Brief.
Von Julie.
Sie ist nicht mehr. Meine Augen sahen die ihrigen sich auf ewig schließen; mein Mund fing ihren letzten Hauch auf; mein Name war das letzte Wort, das sie aussprach; ihr letzter Blick war auf mich geheftet. Nein, nicht das Leben war es, von dem sie zu scheiden schien, ich hatte es ihr zu wenig lieb zu machen gewußt, von mir nur allein riß sie sich los, Sie sah mich ohne Führer und ohne Hoffnung, von meinem Unglück und von meiner Schuld erdrückt; sterben war ihr nichts, ihr Herz härmte sich nur, die Tochter in diesem Zustande zurückzulassen. Sie hatte nur zu sehr Recht. Was hatte sie auf Erden zu verlieren? Was hienieden konnte ihr den unsterblichen Lohn ihrer Geduld und ihrer Tugenden aufwiegen, der im Himmel ihrer wartete? Was blieb für sie auf der Welt noch übrig, als über meine Schmach zu weinen? Reine, keusche Seele, würdige Gattin und unvergleichliche Mutter, du lebst jetzt an dem Aufenthalte der Herrlichkeit und Seligkeit: du lebst! und ich, der Reue und Verzweiflung hingegeben, deines Beistandes, deines Rathes, deiner süßen Liebkosungen beraubt, bin todt dem Glücke, dem Frieden, der Unschuld: ich fühle nichts mehr als meine Schande; mein Leben ist nichts mehr als Kummer und Schmerz. Meine Mutter, du zärtliche Mutter, ach, ach! ich bin mehr todt als du!
Mein Gott! Reißt mich Unglückliche das überströmende Gefühl dennoch hin und macht mich meiner Vorsätze vergessen? Wohin ergieße ich meine Thränen und sende ich meine Seufzer? Wieder dem Grausamen, der Schuld an ihnen ist, vertraue ich sie an! Wieder mit ihm, dem ich das Unglück meines Lebens verdanke, will ich es beweinen! Ja, ja, Barbar, theilen Sie die Qualen, die ich Ihretwegen leiden muß. Sie, um dessen willen ich das Messer in den Mutterbusen stieß, jammern Sie über das Wehe, das mir von Ihnen kommt und fühlen Sie mit mir den Graus eines Elternmordes, der Ihr Werk war. Vor welchen Augen könnte ich es wagen, mich ganz so verächtlich, wie ich bin, zu zeigen? Vor wem könnte ich mich so erniedrigen, wie meine Gewissensqualen es fordern? Wer anders als der Mitschuldige meines Verbrechens würde es in seinem ganzen Umfange kennen? Die unerträglichste von meinen Qualen ist, daß nur mein Inneres mich verklagt und daß ich die unlauteren Thränen, die mir die kochende Reue auspreßt, noch meinem guten Herzen muß beimessen sehen. Ich sah, sah schaudernd den Schmerz die letzten Tage meiner armen, armen Mutter vergiften und beschleunigen. Vergeblich wollte sie aus Mitleid mit mir es verbergen; vergeblich schob sie die Zunahme ihrer Krankheit auf dieselbe Ursache, aus welcher dieselbe entstanden war; vergeblich sagte, von ihr gewonnen, meine Cousine ebenso: durch nichts hat sich mein reuzerrissenes Herz täuschen lassen