Ich weiß nicht, ob Ihre Philosophie sich bereits die Grundsätze angeeignet hat, die, wie man sagt, in den großen Städten über die Duldung solcher Orte herrschen; ich hoffe aber wenigstens, daß Sie nicht zu Denen gehören, welche sich selbst genug verachten, um sich die Benutzung derselben zu verstatten, unter dem Vorwande, ich weiß nicht welcher eingebildeten Nothwendigkeit, von der nur Leute von schlechtem Wandel etwas wissen. Als ob die beiden Geschlechter in dieser Hinsicht von verschiedener Natur wären und dem gesitteten Manne zur Zeit der Abwesenheit oder im Cölibate Aushülfen nöthig wären, deren die gesittete Frau nicht bedarf! Wenn dieser Wahn Sie nicht zu Prostituirten führt, so fürchte ich wenigstens, daß er auf die Dauer Sie selbst auf Irrwege führe. Oh! wenn Sie verächtlich sein wollen, seien Sie es wenigstens ohne Ausrede, und fügen Sie nicht der Unzucht noch die Lüge hinzu. Alle solche vorgeblichen Bedürfnisse haben ihre Quelle nicht in der Natur, sondern in freiwilliger Berückung der Sinne. Selbst die Vorspiegelungen der Liebe läutern sich in einem keuschen Herzen und verderben kein Herz, das nicht schon verdorben ist: im Gegentheile, die Reinheit erhält sich durch sich selbst; die Begierden, welche immer zurückgedrängt werden, gewöhnen sich, nicht wieder zu entstehen, und die Versuchungen vervielfältigen sich nur dadurch, daß man sich daran gewöhnt, ihnen zu erliegen. Zweimal hat mich die Freundschaft getrieben, meinen Widerstand gegen die Behandlung eines Gegenstandes dieser Art zu überwinden: dieses Mal wird das letzte Mal sein; denn durch welches Mittel dürfte ich hoffen von Ihnen zu erlangen, was Sie dem Anstande, der Liebe und der Vernunft nicht gewähren?
Ich komme zu dem wichtigen Punkte zurück, mit welchem ich diesen Brief begonnen habe. Zu einundzwanzig Jahren schickten Sie mir aus dem Wallis ernste, sinnige Schilderungen; zu fünfundzwanzig Jahren schreiben Sie mir aus Paris leeren Tand, Briefe, in denen ich Sinn und Urtheil überall einem gewissen witzelnden Tik aufgeopfert finde, der gar nicht in Ihrem Charakter liegt. Ich weiß nicht, wie Sie es angefangen haben, aber seitdem Sie an dem Sitz der Talente leben, scheinen die Ihrigen Ihnen auszugehen; Sie hatten bei den Bauern gewonnen, und mitten unter den schönen Geistern verlieren Sie. Es ist nicht die Schuld des Ortes, an dem Sie leben, sondern der Bekanntschaften, die Sie gemacht haben, denn nirgends muß man so sorgfältig wählen, als wo das Beste mit dem Schlechtesten vermischt ist. Wenn Sie die Welt studiren wollen, so sehen Sie verständige Leute, die sie aus langer Erfahrung und ruhiger Beobachtung kennen, nicht junge Sausewinde, die nur die Oberfläche sehen und Lächerlichkeiten, deren sie sich selbst schuldig machen. Paris ist voll von Gelehrten, die im Denken geübt sind und denen dieser große Schauplatz alle Tage dazu Stoff bietet. Sie werden mich nicht glauben machen, daß diese ernsten, fleißigen Männer wie Sie von Haus zu Haus, von Coterie in Coterie laufen, um die Frauen und das junge Volk zu amüsiren und in leeres Geschwätz ihre ganze Philosophie zu setzen. Sie besitzen zuviel Würde, um so ihren Stand zu erniedrigen, ihre Talente preis zu geben und durch ihr Beispiel Sitten zu befördern, die zu verbessern ihre Pflicht wäre. Wenn es auch die Meisten thäten, werden doch sicher Manche sein, die es nicht thun, und diese sollten Sie aufsuchen.
Ist es nicht auch noch sonderbar, daß Sie selbst in den Fehler verfallen, welchen Sie den modernen Lustspieldichtern vorwerfen, daß Paris für Sie nur angefüllt ist mit Leuten von Stande, und daß die Personen Ihres eigenen Standes die einzigen sind, von denen Sie nicht reden? Als ob Ihnen die Adelsvorurtheile nicht theuer genug zu stehen kämen, um sie zu hassen, und Sie sich herunterzusetzen glaubten, wenn Sie mit anständigen Bürgerlichen umgingen, die doch vielleicht dort den ehrenwerthesten Stand bilden, Entschuldigen Sie sich, nur nicht mit den Bekanntschaften Milord Eduard's: mit Hülfe Deren würde es Ihnen nicht schwer geworden sein, andere in einem niedrigeren Stande zu machen. So viele Leute wollen aufwärts steigen, daß es immer leicht ist, hinabzusteigen, und Ihrem eigenen Geständnisse nach, ist es das einzige Mittel, die wahren Sitten eines Volkes kennen zu lernen, daß man sein Privatleben in denjenigen Klassen, welche die zahlreichsten sind, studire: denn wenn man bei Denen stehen bleibt, welche immer repräsentiren, so sieht man nichts als Komödianten.
Ich wünschte wohl, daß Ihre Neugier noch weiter ginge. Warum ist in einer so reichen Stadt das niedere Volk so im Elend, während bei uns, wo es keine Millionäre giebt, die äußerste Entblößung so selten ist? Diese Frage verdient es, wie mir scheint, gar sehr, daß Sie Nachforschungen darüber anstellen, aber bei den Leuten, mit denen Sie leben, dürfen Sie freilich nicht hoffen, ihre Lösung zu finden. In den vergoldeten Appartements sieht sich um, wer Unterricht in den vornehmen Manieren der Welt haben will; aber der Weise läßt sich in ihre Mysterien einweihen in der Hütte des Armen. Dort gewahrt man augenscheinlich die finsteren Schliche des Lasters, jene Schliche, die es in der feinen Gesellschaft unter geschminkten Worten versteckt dort unterrichtet man sich, durch welche geheime Schändlichkeiten der Mächtige und Reiche den letzten Bissen Brot dem Unterdrückten entreißt, den er öffentlich zum Schein bedauert. Ach! wenn ich unseren alten Militärs in dieser Hinsicht Glauben schenken darf, was würden Sie erfahren in den Bodenkammern eines fünften Stockes, was für Dinge, die man in den Hotels des Faubourg Saint-Germain mit tiefem Schweigen bedeckt! und wie viel schöne Phrasenmacher würden beschämt dastehen mit ihren erheuchelten Humanitätsmaximen, wenn alle Unglücklichen, die sie zu Grunde gerichtet, sich einstellten, um sie Lügen zu strafen!
Ich weiß, man hat nicht gern den Anblick von Elend, das man nicht lindern kann, und selbst der Reiche wendet die Augen ab von dem Armen, dem er Hülfe versagt; aber es ist doch nicht Geld allein, was die Unglücklichen brauchen, und nur Die, welche träg im Gutesthun sind, wissen nur mit dem Beutel in der Hand Gutes zu thun. Tröstungen, Rathschläge, Pflege, Freunde, Protection, wie viele Hülfsmittel stehen, wenn man auch keine Reichthümer besitzt, dem Mitleid zu Gebote, um dem Dürftigen beizuspringen! Wie Mancher wird nur deshalb unterdrückt, weil es ihm an einem Organe fehlt, um seine Klage vernehmlich zu machen! Es liegt oft nur an einem Worte, das er nicht zu sprechen weiß, an einem Grunde, den er nicht entwickeln kann, an der Thür eines Vornehmen, die er sich nicht zu öffnen im Stande ist. Der furchtlose Muth uneigennütziger Tugend reicht schon hin, zahllose Hindernisse aus dem Wege zu räumen, und die Beredtsamkeit eines braven Mannes kann die Tyrannei inmitten ihrer Macht erschüttern.
Wenn Sie daher in Wahrheit Mensch sein wollen, lernen Sie wieder herabsteigen. Die Menschlichkeit fließt gleich einem reinen, erquickenden Wasser und befruchtet die tief gelegenen Orte; sie sucht immer den Abfall, sie läßt die öden Felsen trocken liegen, welche das Gefilde bedräuen und nur schädlichen Schatten geben oder Wetter entsenden, um die Nachbarschaft zu zerschmettern.
So, mein Freund, zieht man Vortheil von der Gegenwart, indem man sich zugleich für die Zukunft unterrichtet und die Güte nimmt die Zinsen vom Gewinne der Weisheit voraus, damit man, wären etwa die erlangten Aufklärungen unbrauchbar, deshalb doch nicht die Zeit verloren achten müsse, die man auf ihren Erwerb verwendet hat. Wer unter Leuten, die nach Stellen gehen, leben muß, kann sich nicht vorsorglich genug gegen ihre vergifteten Maximen waffnen, und da ist beständige Wohlthätigkeitsübung allein das, was die Herzen, und wären es die besten, wahrt, daß sie nicht von den Ehrgeizigen angesteckt werden. Trauen Sie mir, versuchen Sie es mit dieser neuen Art Studium, sie ist Ihrer würdiger als jene, die Sie unternommen haben; und wie der Geist sich verengt, je mehr die Seele verdirbt, so werden Sie umgekehrt bald fühlen, wie die Uebung erhabener Tugenden den Genius hebt und nährt, wie innige Theilnahme an fremdem Unglücke besser dazu hilft, die Quellen desselben zu entdecken und uns in jedem Sinne von den Lastern entfernt zu halten, die es hervorgebracht haben.
Ich war Ihnen bei der kritischen Lage, in der Sie sich zu befinden scheinen, alle Offenheit der Freundschaft schuldig, damit nicht ein zweiter Schritt aus der Bahn des ungeregelten Lebens, ehe Sie Zeit gewinnen, sich selbst wieder zu finden, Sie so weit reiße, daß keine Umkehr mehr möglich ist. Nun aber kann ich Ihnen nicht verbergen, mein Freund, wie sehr mich Ihr schleuniges und aufrichtiges Bekenntniß gerührt hat, denn ich fühle, wie schwer Ihnen das beschämende Geständniß geworden ist, und daran wieder, wie die Scham über Ihren Fehltritt Ihr Herz belastete.