Ach, sagte Julie, jetzt sehen Sie gar nichts! Jetzt denkt jedes nur an sich; aber unzertrennliche Gatten, das eifrige, häusliche Sorgen, die elterliche Zärtlichkeit, das Alles entgeht Ihnen. Vor zwei Monaten mußte man hier sein, um seine Augen an dem reizendsten Schauspiel zu weiden, und sein Herz an dem süßesten Gefühle der Natur. Madame, antwortete ich traurig, Sie sind Gattin und Mutter; dies sind Freuden, die Sie wohl kennen müssen. Sogleich ergriff Herr von Wolmar meine Hand, drückte sie mir, und sagte: Sie haben Freunde, und diese Freunde haben Kinder: wie sollte Ihnen die elterliche Liebe fremd sein? Ich sah ihn an, ich sah Julie an; beide sahen einander an, und dann mich mit einem so herzbewegenden Blick, daß ich sie nach einander umarmte, und mit Rührung sagte: Sie sind mir so theuer, als ihr mir seid. Ich weiß nicht, wie wunderlich es zugehen mag, daß ein Wort eine Seele so umwandeln kann; aber von diesem Augenblicke an scheint mir Herr von Wolmar ein anderer Mann, und ich sehe in ihm weniger den Gatten Deren, die ich so sehr geliebt habe, als den Vater zweier Kinder, für die ich mein Leben lassen würde.
Ich wollte um das Bassin herumgehen, um den reizenden Ort und seine kleinen Bewohner näher zu besehen, aber Frau von Wolmar hielt mich zurück. Niemand, sagte sie zu mir, stört sie in ihrer Wohnung, und Sie sind sogar der erste von unseren Gästen, den ich bis hierher geführt habe. Es sind vier Schlüssel zu dem Baumgarten vorhanden, von denen mein Vater und wir beide jeder einen haben. Fanchon hat den vierten, als Aufseherin, und um manchmal meine Kinder herzuführen, eine Gunst, deren Werth dadurch erhöht wird, daß ihnen die größte Behutsamkeit für die Zeit ihres Hierseins eingeschärft ist. Auch Gustin selbst kommt nicht ohne einen von uns Vieren herein; wenn die beiden Frühlingsmonate vorüber sind, in denen hier seine Arbeit von Nutzen ist, fast gar nicht mehr; wir thun dann alles Uebrige selbst. So haben Sie, sagte ich, um Ihre Vögel nicht zu Ihren Sklaven zu machen, sich selbst zu Sklaven jener gemacht. Das ist recht die Rede eines Tyrannen, entgegnete sie, der seiner Freiheit nur so weit zu genießen glaubt, als er die Freiheit Anderer hindert.
Als wir weggehen wollten, warf Herr von Wolmar eine Handvoll Gerste in das Bassin, und da ich hineinsah, bemerkte ich einige Fischchen. Aha, sagte ich sogleich, also doch Gefangene! Ja, sagte er, es sind Kriegsgefangene, denen man das Leben geschenkt hat. So ist es, setzte seine Frau hinzu. Vor einiger Zeit entwandte Fanchon in der Küche einige Bärschchen, welche sie ohne mein Wissen hierher trug. Ich lasse sie hier, um Fanchon nicht zu betrüben, wenn ich die Fische wieder in den See versetzte; denn es ist doch besser, ein paar Fische etwas eng zu behausen, als eine brave Person zu kränken. Sie haben Recht, antwortete ich und diese hier sind nicht zu sehr zu beklagen, daß sie dem Fischkessel um diesen Preis entgangen sind.
Nun, was dünkt Ihnen? sagte sie zu mir auf dem Rückwege. Sind Sie noch am Ende der Welt? Nein, sagte ich, ich bin ganz außerhald ihrer, und Sie haben mich in Wahrheit in's Elysium versetzt. Der pomphafte Name, den sie diesem Baumgarten gegeben hat, sagte Herr von Wolmar, verdient wohl diesen Spott. Schenken Sie indessen einem Kinderspiel immerhin einiges Lob, und bedenken Sie, daß es ihren Mutterpflichten nie etwas entzogen hat. Ich weiß es, entgegnete ich, ich bin vollkommen davon überzeugt, und das kindische Spiel gefällt mir in dieser Gattung besser, als die Arbeiten der Männer.
Es ist indessen hier noch Etwas, das ich nicht begreifen kann, fuhr ich fort; nämlich ein Ort, der so ganz anders ist als er früher war, kann doch nur durch Sorgfalt und Pflege so geworden sein, wie er jetzt ist; nun aber sehe ich nirgends die geringste Spur von Cultur; Alles ist grün, frisch, üppig und man spürt die Hand des Gärtners nicht: nichts steht dem Gedanken an eine wüste Insel entgegen, der mir kam, als ich hier eintrat, und ich bemerke keine Tritte von Menschen. Ei, sagte Herr von Wolmar, das kommt daher, daß man Sorge getragen hat, sie zu verwischen. Ich bin oftmals Zeuge, und manchmal Mitschuldiger dieser Schelmerei gewesen. Man säet Gras auf alle bearbeiteten Stellen und bald sind die Fußstapfen der Arbeiter von den Halmen bedeckt; auf mageren und unfruchtbaren Stellen läßt man Winters eine Schicht Dünger liegen, der Dünger verzehrt das Moos und giebt wieder Gräsern und Pflanzen Leben; die Bäume befinden sich auch nicht übel dabei, und im Sommer ist keine Spur mehr davon zu sehen. Was das Moos betrifft, welches in einigen Alleen den Boden überzieht, so ist uns das Geheimniß seiner Erzeugung aus England durch Milord Eduard zugekommen. Diese beiden Seiten, fuhr er fort, waren durch Mauern geschlossen; nun sind die Mauern maskirt worden, nicht mit Spalieren, sondern mit dichtem Gebüsch, so daß die Grenze des Ortes wie der Anfang eines Waldes erscheint. Auf den beiden andern Seiten sind starke lebendige Hecken aus Ahorn, Weißdorn, Rainweide und anderem vermischten Baumwerk angebracht worden, welche in ihrer Mannichfaltigkeit nicht das Ansehen von Hecken, sondern von wildem Waldgebüsch haben. Sie sehen nichts glatt Geebnetes, nichts in geraden Linien Geordnetes; die Schnur ist hier nie angewendet worden, die Natur pflanzt nicht nach der Schnur. Die gewundenen Wege, in ihrer scheinbaren Unregelmäßigkeit, sind mit Kunst so angelegt, daß möglichst viel Raum zum Umherwandeln gewonnen ist, daß sie die Grenzen der Insel verstecken, und den scheinbaren Umfang derselben vergrößern, ohne unbequeme und zu häufige Biegungen zu machen [Also nicht die kleinen Boskets nach der Mode, die so lächerlich hin und her geschwungen sind, daß man nur im Zickzack geht und bei jedem Schritte eine Pirouette machen muß.].
Indem ich das Alles betrachtete, kam es mir wunderlich vor, daß man sich so viel Mühe gegeben, die Mühe, die man sich gegeben hatte, zu verstecken: wäre es da nicht besser gewesen, sagte ich, sich gar keine zu geben? Trotz Allem, was Ihnen gesagt worden, entgegnete mir Julie, schätzen Sie die Größe der Arbeit nach der Wirkung, und Sie täuschen sich. Alles, was Sie sehen, ist wildes oder stark wachsendes Pflanzenwerk, das man nur in die Erde zu stecken braucht, und das dann von selbst gedeiht. Uebrigens scheint die Natur den Augen der Menschen ihre wahren Schönheiten entziehen zu wollen, weil sie für diese zu wenig Sinn haben, und sie verunstalten, wenn sie ihnen erreichbar sind; sie flieht die bewohnten Orte; hoch auf Bergeshöhen, tief in Wäldern, auf wüsten Inseln entfaltet sie ihre entzückendsten Reize. Die, welche sie lieben und ihr nicht so weit nachreisen können, sind genöthigt, ihr Gewalt anzuthun, und sie gewissermaßen zu zwingen, daß sie sich bei ihnen niederlasse; ohne ein Bißchen Illusion geht das nicht ab. Bei diesen Worten kam mir ein Einfall, der belacht wurde. Ich stelle mir vor, sagte ich, daß ein reicher Herr aus Paris oder London dieses Haus erwirbt und einen Architekten mitbringt, der theuer dafür bezahlt wird, die Natur zu verderben. Mit welcher wegwerfenden Miene würde er diesen einfachen, unscheinbaren Ort betreten, mit welcher Verachtung würde er all dies Gestrüpp ausreißen lassen! Was für schöne gerade Linien würde er ziehen! Was für schöne Alleen hindurchbrechen! Was für schöne Gänsepfoten, im Parasol und Fächer geschnittene Bäume! Was für schöne wohlgeschnörkelte Gitter! Was für schöne wohlgezeichnete, wohlumrissene, wohlgedrechselte Lauben! Was für schöne Boulingrins von feinem englischen Rasen, rund, viereckig, bogig, oval! Was für schöne Buchsfiguren, Drachen, Pagoden, Fratzen und alle Arten Ungeheuer! Was für schöne Vasen von Bronze und für schöne Früchte von Stein [Ich bin überzeugt, daß bald die Zeit kommen wird, da man in unsern Gärten nichts mehr von allen Dem, was es im Freien giebt, wird dulden wollen, weder Pflanzen noch Bäume; man wird nur Blumen von Porzellan, Steinpuppen, Gitterwerk, Sand von allen Farben und schöne Vasen mit nichts darin haben.]! ….