Die beiden Stände der Gesellschaft, welche ich zuerst zu beobachten Gelegenheit hatte, waren die Höflinge und die Lakaien, zwei Menschenklassen, die mehr dem Scheine als der Wirklichkeit nach von einander verschieden, und so wenig eines Studiums werth, so leicht zu erkennen sind, daß ich sie beim ersten Blick satt hatte. Indem ich den Hof verließ, wo Alles so bald gesehen ist, entzog ich mich, ohne es zu wissen, der Gefahr, die mir daselbst drohte, und der ich nicht entgangen sein würde. Ich nahm einen andern Namen an. Um einmal den Militärstand kennen zu lernen, nahm ich Dienste bei einem fremden Fürsten. Hier hatte ich das Glück, Ihrem Vater nützlich zu sein, der seinen Freund getödtet hatte, und aus Verzweiflung hierüber tollkühn und ohne alle Schuldigkeit sein Leben aussetzte. Das tieffühlende und erkenntliche Herz dieses braven Offiziers fing nun an, mir eine bessere Meinung von der Menschheit beizubringen. Er schloß sich mir mit einer solchen Freundschaft an, daß ich ihm die meinige nicht versagen konnte, und wir unterhielten seitdem unausgesetzt eine Verbindung, die von Tage zu Tage enger wurde. Ich lernte in meiner neuen Stellung, daß das Interesse nicht, wie ich geglaubt hatte, die einzige Triebfeder der menschlichen Handlungen ist, und daß es unter der Masse von Vorurtheilen, welche gegen die Tugend streiten, auch einige giebt, die ihr günstig sind. Ich sah ein, daß das Charakteristische des Menschen im Allgemeinen eine Eigenliebe ist, die, an sich weder gut noch schlecht, das eine oder das andere nur durch die Umstände wird, welche sie bedingen, und welche selbst von den Gewohnheiten, von den Gesetzen, von Rang und Stand, Stellung und Vermögen und der gesammten Einrichtung unseres gesellschaftlichen Lebens abhängen. Ich überließ mich also meinem Hange, und die eitlen Standesvorurtheile verachtend, warf ich mich nach und nach in die verschiedenen Berufsweisen, welche mir behülflich sein konnten, alle Stände unter einander zu vergleichen und durcheinander kennen zu lernen. Ich fühlte, was auch Sie in einem Ihrer Briefe bemerkt haben, sagte er zu Saint-Preux, daß man nichts sieht, wenn man sich damit begnügt nur zu sehen, daß man selber handeln muß, wenn man die Menschen will handeln sehen, und ich wurde Schauspieler, um Zuschauer zu sein. Es ist immer leicht, herunter zu steigen; ich versuchte es mit einer Menge von Berufsarten, die zu ergreifen sich kein Mann meines Standes je einfallen läßt. Ich wurde sogar Bauer, und als mich Julie zum Gartenburschen machte, fand sie an mir keinen solchen Neuling, wie sie wohl vermuthet haben mag.
Mit der wahren Menschenkenntniß, von der uns die müßige Philosophie nur den Schein verschafft, erwarb ich noch einen andern, unerwarteten Vortheil, nämlich, daß ich durch ein thätiges Leben die Liebe zur Ordnung, welche mir von Natur beiwohnt, steigerte, und an dem Guten durch das Vergnügen, dazu beizutragen, neues Gefallen fand. Dies machte, daß ich etwas weniger beobachtend wurde, etwas mehr in mich selbst hineinging, und durch eine ziemlich natürliche Folge dieser Entwicklung nahm ich endlich wahr, daß ich allein stand. Die Einsamkeit, die mir immer langweilig gewesen war, machte mir ein Grauen, und doch konnte ich nicht mehr hoffen, mich noch lange vor ihr zu retten. Ohne daß sich meine Kälte verloren hätte, fühlte ich doch das Bedürfniß, mich an ein anderes Wesen anzuschließen; die trostlose Hinfälligkeit des Alters machte mich in der Voraussicht betrübt, und zum ersten Male in meinem Leben erfuhr ich, was innere Unruhe und Traurigkeit ist. Ich sagte dem Baron von Étange von meinem Kummer. Ihr müßt nicht als Junggesell grau werden, sagte er. Ich selbst, der ich bisher im Ehebunde fast unabhängig gelebt habe, fühle das Bedürfniß, wieder Vater und Gatte zu werden, und will mich in den Schoß meiner Familie zurückziehen. Es wird nur von Euch abhängen, ob Ihr diese auch zu der Eurigen machen und mir den Sohn ersetzen wollt, den ich verloren habe. Ich habe eine einzige Tochter zu verheiraten, sie ist nicht ohne Verdienst; sie hat ein gefühlvolles Herz, und die Liebe zu ihrer Pflicht macht ihr Alles lieb, was dazu gehört. Sie ist weder eine Schönheit, noch ein Wunder von Geist; aber kommt und seht sie Euch an, und glaubt mir, wenn Ihr für Die nichts fühlt, so werdet Ihr nie für irgend eine Person etwas fühlen. Ich kam, ich sah Sie, Julie, und fand, daß Ihr Vater bescheiden von Ihnen gesprochen hatte, Ihre Freude, Ihre Thränen, als Sie ihn wieder umarmten, machten mir zum ersten oder vielmehr einzigen Male in meinem Leben das Herz weich. Wenn der Eindruck nicht stark war, so war er doch eben einzig, und die Gefühle bedürfen zu ihrer Wirksamkeit nur so viel Kraft, als zur Ueberwindung derjenigen, die sich ihnen widersetzen, nöthig ist. Drei Jahre Abwesenheit änderten die Verfassung meines Herzens nicht. Die Verfassung des Ihrigen entging mir nicht bei meiner Rückkehr, und hier nun muß ich Sie für ein Bekenntniß, das Ihnen so schwer geworden, mit gleicher Münze bezahlen.
Nun denke dir, meine Liebe, meine Ueberraschung, als ich höre, daß er in alle meine Geheimnisse vor unserer Verheiratung eingeweiht worden war, und mich heiratete, ohne damit unbekannt zu sein, daß ich einem Andern angehörte.
Dieses Betragen war nicht zu entschuldigen, fuhr Herr von Wolmar fort. Ich beleidigte das Zartgefühl; ich sündigte gegen die Klugheil; ich setzte Ihre und meine Ehre auf's Spiel; ich mußte fürchten, uns beide in unheilbares Unglück zu stürzen; aber ich liebte Sie, und liebte nur Sie, alles Uebrige war mir gleichgültig. Wie soll man die Leidenschaft, und wäre sie noch so schwach, zurückdrängen, wenn sie gänzlich ohne Gegengewicht ist? Dies ist das Schlimme bei kalten, ruhigen Charakteren. Alles geht gut, solange ihre Kälte sie vor Versuchungen schützt; stellt sich aber einmal eine solche ein, so sind sie ebenso rasch besiegt, als angefallen, und die Vernunft, welche die Herrschaft führt, solange sie allein auf dem Platze ist, hat nicht Kraft genug, um dem geringsten Anlauf zu widerstehen. Ich bin nur einmal in Versuchung gewesen, und bin erlegen. Hätte mich der Rausch noch irgend einer andern Leidenschaft zum Wanken gebracht, so würde ich ebenso oft, als ich fehl trat, gefallen sein. Nur feurige Seelen wissen zu kämpfen und zu siegen; alle großen Anstrengungen, alle erhabenen Thaten sind ihr Werk, die kalte Vernunft hat nie etwas Glänzendes zu Stande gebracht, und man siegt über die Leidenschaften nur, wenn man eine der anderen entgegenstellt. Wenn die Leidenschaft für die Tugend sich erhoben hat, so herrscht sie allein und hält Alles im Gleichgewicht. So bildet sich der wahre Weise, der nicht mehr, als ein Anderer, vor den Leidenschaften sicher ist, aber allein sie durch sich selbst zu besiegen versteht, wie sich ein Steuermann auch die widrigen Winde zu Nutzen macht.
Sie sehen, daß ich nicht darauf ausgehe, meinen Fehler zu verkleinern; wenn es einer gewesen wäre, so hätte ich ihn unfehlbar begangen; aber Julie, ich kannte Sie, und ich beging keinen, indem ich Sie heiratete. Ich fühlte, daß von Ihnen allein alles Glück abhing, dessen ich genießen konnte, und daß ich, wenn irgend Einer fähig war, Sie glücklich zu machen. Ich wußte, daß Unschuld und Friede Ihrem Herzen nothwendig waren, daß die Liebe, welche es einnahm, ihm Beides nie gewähren würde, und daß nur der Abscheu vor dem Verbrechen die Liebe daraus verbannen könnte. Ich sah, daß sich Ihre Seele in einer Abspannung befand, aus welcher sie sich nur durch einen neuen Kampf befreien könnte, und daß Sie erst fühlen müßten, wie schätzenswerth Sie noch sein könnten, um es wieder werden zu lernen.
Für die Liebe war Ihr Herz verbraucht; deshalb brachte ich ein Mißverhältnis des Alters nicht in Anschlag, welches mir das Recht raubte, auf ein Gefühl Anspruch zu machen, von welchem Der, welcher sein Gegenstand war, keinen Genuß haben, und das kein Anderer mehr erwerben konnte. Indem ich dagegen sah, daß sich bei mir, in einem mehr als zur Hälfte verstrichenen Leben, nur eine einzige Neigung fühlbar gemacht hatte, urtheilte ich, daß sie dauerhaft sein würde, und gefiel mir darin, ihr den Rest meiner Tage zuzuwenden. Bei allen meinen Nachforschungen hatte ich nichts gefunden, das Ihnen gleichkäme; ich dachte, was Sie nicht thun würden, würde keine Andere auf der Welt thun; ich wagte es, an die Tugend zu glauben, und heiratete Sie.
Daß Sie mir aus Ihrem früheren Verhältniß ein Geheimniß machten, nahm mich nicht Wunder; ich wußte den Grund davon, und