Mit ihren Forderungen nach Ethik, Unmittelbarkeit, Individualisierung und disruptiver Innovation hatte die vom dritten Industriezeitalter geschaffene Welt zwar noch eine gewisse Reichweite, doch die radikalen Veränderungen, die sie durchlief, warfen ernsthafte Fragen zu ihren Grundprinzipien auf. So stellte sich die Frage, ob man diesen Veränderungen mit Gleichmut begegnen und abwarten sollte, bis sich die Lage stabilisierte (wie man einen Schmerz ignoriert, bis er unerträglich wird), oder ob die Zeit reif war für eine weitere Umwälzung. Bis dahin war ja alles bestens gelaufen – so weit, so gut –, doch ob das so bleiben konnte, war unklar. Zu klären blieb, ob all die anstehenden Disruptionen so weltbewegend waren, dass sie als neue industrielle Revolution bezeichnet werden durften, die vierte in der Menschheitsgeschichte.
KAPITEL
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DAS VIERTE INDUSTRIEZEITALTER: ECHTE DISRUPTION ODER FALSCHE REVOLUTION?
ZUSAMMENFASSUNG
Viele Beobachter bezweifelten, ob sich tatsächlich eine industrielle Revolution vollzog. Statt sich bereitwillig auf einen disruptiven Ansatz einzulassen, zogen sie es vor, untätig zu bleiben oder sich auf einfachste Reformen in kleinen Schritten zu beschränken. Sicherlich hat das Fehlen eines konkreten Ziels in Form eines Organisationsmodells all jenen das Leben schwerer gemacht, die echte Transformation erreichen wollten. Nach dem Taylorismus, dem Fordismus und dem Toyotismus stellte sich nun die Frage, welches neue Organisationsmodell sich wohl herausbilden und es Unternehmen ermöglichen würde, all die eintretenden technologischen Veränderungen ganz auszuschöpfen und gleichzeitig die neuen Anforderungen der Kunden zu erfüllen.
Vier neue Herausforderungen für die Industrie
Bevor wir über die vierte industrielle Revolution sprechen, sollten wir auf die angesprochenen größten Herausforderungen eingehen – und auf ihre wichtigsten Folgen (Abbildung 2.1).
Die erste Herausforderung war die neue Hypervernetzung zwischen Maschinen, Menschen, Produkten und dem Berufs- und Privatleben jedes Einzelnen. In der neuen Welt wäre jeder mit jedem vernetzt und hätte Zugang zu Informationen, die nicht mehr länger nur wenigen Personen und Teams vorbehalten wären, die am Arbeitsplatz Wert auf mehr Sinnstiftung und Autonomie legen. Auch die modernen Verbraucher würden Abläufe in Echtzeit einfordern – mit Reaktionsschnelle als Schlüsselwert. Das würde bedeuten, dass Unternehmen verstärkt auf immer umfassendere Konnektivität setzen müssen, da Kunden noch schnellere Reaktionen fordern.
Abbildung 2.1Die vier Herausforderungen des vierten Industriezeitalters
Quelle: OPEO
Die zweite Herausforderung bestand im exponentiellen Charakter des Fortschritts. Dem Moore’schen Gesetz zufolge verdoppelt sich die Rechenleistung alle 18 Monate, und die meisten Technologien folgen diesem Exponentialitätstrend. Am Ende stand die Verbreitung von immer stärker atomisierten Technologien, die gleichzeitig spezifischer und innovativer waren. Das ging einher mit der Atomisierung der damit verbundenen Kompetenzen in einem Umfeld, das sich durch fließende Prozesse auszeichnete. Agilität (auf der Grundlage ständiger Anpassung) würde zum zentralen Wert, und die Frage wäre, wie man vom fortlaufenden Wandel in der Industrierobotik, im 3D-Druck, beim Internet der Dinge, bei der künstlichen Intelligenz und bei digitalen Tools am besten profitieren konnte.
Die dritte Herausforderung stellte die Hyperkonzentration dar: die Möglichkeit, dass die größten Akteure in der digitalen Sphäre sowohl nach Marktwert als auch geografisch dominieren würden. Die globale Forschung und Entwicklung konzentriert sich weitgehend auf wenige kleine Standorte (mit zehn Clustern, auf die rund drei Viertel der gesamten Forschung und Entwicklung weltweit entfallen). Eine solche Konzentration hat für soziales Ungleichgewicht gesorgt. Die Menschen befürchten allmählich, dass ihre Arbeitsplätze nicht mehr sicher sind und die Mittelschicht verschwinden könnte. Hinzu kommt, dass auch die Missverhältnisse zwischen den Regionen zunahmen. Konservative Geschäftsmodelle reichten nicht mehr, und es wurden breiter angelegte Support-Systeme erforderlich. Das zentrale Wertsystem war das Ökosystem. An diesem Punkt stellte sich die Frage, wie ein Sicherheitsnetz eingezogen werden konnte, um dafür zu sorgen, dass die digitale Welt (mit dem ihr innewohnenden Alles- oder-nichts-Prinzip) nicht unweigerlich zu sozialen oder ökologischen Verheerungen führte. Außerdem mussten auch Antworten gefunden werden auf das Bedürfnis der neuen Generationen nach Sinnstiftung am Arbeitsplatz und in ihrem Konsumverhalten.
Die vierte und letzte Herausforderung schließlich bezog sich auf die Veränderung der Wertwahrnehmung. Eine Gesellschaft, die im Konsum von Gütern verwurzelt war, entwickelte sich kontinuierlich hin zu einer Welt, in der es nur noch um die Nutzung von Gütern ging. Erfolg winkte darin allen, die neue Geschäftsmodelle begründeten und Daten nutzten, um als Allererste innovative Dienste wie digitale Plattformen zu entwickeln. Alle versuchten eifrig, herauszufinden, wie man spezifischere Dienste und Produkte anbieten konnte, um die Nachfrage der Verbraucher des 21. Jahrhunderts zu befriedigen, die sich mehr dafür interessierten, wie man Güter nutzen konnte, als für den mit dem Eigentum daran verbundenen Status.
Diese Herausforderungen warfen Probleme auf, die einerseits grundlegend waren, andererseits aber auch eine Struktur vorgaben. Sie legten ausgesprochen deutlich nahe, dass das daraufhin geschaffene Modell seinem Wesen nach disruptiv sein müsste. Die Realität ist jedoch etwas komplexer, denn jede Anpassung an solche Herausforderungen wäre erheblich, mitunter widersprüchlich und auf jeden Fall schwer zu konzipieren. Daher die Skepsis, die viele