Die Tesla-Methode. Michael Valentin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Valentin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783864707155
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entwickelt sich das Leben, und so lernt unser Gehirn – in kleinen Schritten, Tag für Tag. Wie schwer es dem Menschen fällt, sich das Exponentialgesetz vorzustellen, geht sehr treffend aus der alten indischen Legende vom König Balhait hervor.

      Eines Tages langweilte sich Balhait und beschloss, einen Wettbewerb auszurufen: Demjenigen, dem eine gute Zerstreuung einfiel, wurde eine märchenhafte Belohnung in Aussicht gestellt. Ein weiser Mann namens Sissa nahm die Herausforderung mit einem boshaften Hintergedanken an. Er erfand zu diesem Zweck (der Legende nach) das Schachspiel und präsentierte es dem König. Dieser war so begeistert, dass er Sissa für dieses außergewöhnliche Geschenk alles versprach, was sein Herz begehrte. Sissa bat seinen Herrscher daraufhin, ihm ein Reiskorn auf das erste Feld des Schachbretts zu legen, zwei auf das zweite, vier auf das dritte und so weiter. Die Zahl der Reiskörner sollte von einem Feld zum nächsten bis hin zum allerletzten verdoppelt werden. Als die Berater des Königs versuchten, diesen Wunsch zu erfüllen, merkten sie bald, dass es im ganzen Königreich nicht genug Reis gab, um auch nur die Hälfte des Schachbretts abzuarbeiten. Der König begriff, dass ihn Sissa hinters Licht geführt hatte, und verurteilte den Mann zum Tode. Sissa war quasi einer der ersten, der den Kollateralschäden des Exponentialgesetzes zum Opfer fiel, das wir bis heute nicht richtig begreifen können.

      Diese Legende veranschaulicht, wie schwer es dem menschlichen Gehirn fällt, ein Gesetz zu erfassen, das seine endgültige Form noch nicht erreicht hat. Dabei wird die Neuzeit, die manche Experten unbedingt als „drittes Industriezeitalter“ etikettieren wollen, bereits von einem Grundsatz des exponentiellen Fortschritts bestimmt. Das könnte nicht nur erklären, weshalb heute so verbreitet der Eindruck herrscht, es sei alles im Fluss, sondern auch das kollektive Unbehagen, das dieser beschleunigte Fortschritt auslöst. Die moderne Zivilisation nähert sich dem Punkt, an dem die Kurve steiler wird. Fortschritt offenbart sich nicht mehr von einer Generation zur nächsten, sondern innerhalb der eigenen Lebenszeit. Das alles verdeutlicht, warum vor jeder Diskussion über die Existenz einer neuen industriellen Revolution (der vierten in der Geschichte) ein genauerer Blick auf die Merkmale des dritten Industriezeitalters angezeigt ist – eines Wirtschafts-, Technik- und Organisationsmodells, das beispiellose Stärken und Vorzüge hat, aber auch ganz klare Grenzen.

       Das Paradigma von der glücklichen Globalisierung

      Der Wiederaufbau der westlichen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg bewirkte, dass sich eine überwiegend vom Ackerbau geprägte Wirtschaft zu einer Wirtschaft entwickelte, die sich auf industrielle (und später dienstleistungsorientierte) Anwendungen spezialisierte. Befeuert durch immer reichlicher vorhandene Ölressourcen und eine Lockerung der Handelsbarrieren hatte sich der Welthandel in den 1960er-Jahren bereits wieder verstärkt. Von Jahr zu Jahr demokratisierte sich der Personen- (und dann auch der Waren-)verkehr zusehends und nahm zu – vor allem nach dem Fall der Berliner Mauer 1989. Der International Civil Aviation Organization (ICAO) zufolge spiegelte sich dieser allgemeine Trend auch im Luftverkehr wider: Dieser verzeichnete einen Anstieg von zehn Millionen Passagieren im Jahr 1950 auf 500 Millionen im Jahr 1970 und 3 Milliarden im Jahr 2010. Das senkte die Transportkosten und erleichterte es, Produkte fernab ihrer Verbraucher zu fertigen.

      Berichten zufolge wurden Betriebsverlagerungen ab den 1980er-Jahren in den Industrieländern der Welt zum Massenphänomen, was insbesondere die Herausbildung neuer asiatischer Schwergewichte begünstigte – allen voran China. Mit dem Aufkommen industrieller IT-Systeme bedeutete die Fragmentierung der Lieferketten, dass weltweit immer anspruchsvollere Produkte hochkomplex produziert und über durchgehende Transportketten geliefert werden konnten (also alles vom einfachen Bauteil bis zum fertigen Produkt). Selbst wenn die Endmontage nicht unbedingt ausgelagert wurde, führte das zu einer Situation, wie sie heute vorliegt, in der über 50 Prozent der gesamten Wertschöpfung „exportiert“ werden und nicht in dem Markt stattfinden, in dem ein Produkt konsumiert wird – auch bei Hightech-Produkten. Parallel zur Atomisierung der Lieferketten explodierte der gewerbliche Handel – wodurch die Transportwege für grundlegende Industriekomponenten und Produktmodule gleichermaßen länger wurden.

      Verstärkt wurde dieser Trend durch die Liberalisierung der Finanzmärkte, denn der freie Kapitalverkehr trug zur Entstehung polymorpher Gruppen bei, die sich verbanden und trennten in Abhängigkeit von Trends, die von der Realwirtschaft vollkommen losgelöst sein konnten. Am Ende verschwanden dadurch große Teile der klassischen Fertigung aus dem Westen. Textilien beispielsweise wurden nur noch im Ausland produziert, gefolgt von anderen Artikeln des Grundbedarfs wie Spielzeug und einfachen Elektronikprodukten. In Europa setzte sich der fabriklose „Fabless“-Ansatz durch, den Serge Tchuruk als Chef von Alcatel bekannt machte. Die logische Folge war die Frage, warum ein Unternehmen überhaupt margenschwache Waren in einem Sektor, der laufender Erneuerung unterlag, lokal produzieren sollte. Der Wert eines Unternehmens koppelte sich zunehmend vom Wert seiner Produktionsanlagen ab, deren Standort sich immer stärker nach dem Arbeitskostengefälle zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden richtete.

      Das vorherrschende Strategiemodell – das sowohl den Wettlauf um Wachstum (zur Deckung der Gemeinkosten) als auch die Fragmentierung der Lieferketten (zur Ausnutzung der weltweiten Unterschiede bei den Arbeitskosten) reflektiert – ermöglichte Skalenvorteile und Wertschöpfung durch die Optimierung des globalen Betriebs. Solches Wachstum entstand einerseits organisch, andererseits durch Akquisitionen. In beiden Fällen lief es auf einen Wettlauf um Größe hinaus, der sich in einer Strategie zur Anhäufung von Aktivposten äußerte. Nach und nach wurden die Akteure in den verschiedenen Ketten immer stärker voneinander abhängig, wobei jeder das Interesse verfolgte, durch herausragende Leistungen in seinem Kerngeschäft die eigenen Margen zu schützen.

       Der Toyotismus – ein Schicksalsmodell

      Verbraucher, Aktionäre und Beschäftigte stellten immer höhere Ansprüche. Die Verbraucher wollten Produkte kaufen, die passgenauer auf sie zugeschnitten waren, schnell verändert werden konnten und jederzeit zur Verfügung standen. Das setzte die Lieferkettenlogistik und die Reaktionsfähigkeit der Fabriken gleichermaßen unter Druck. Auch die Struktur der Aktionäre entwickelte sich weiter, vor allem im Nachgang zur Entstehung großer Pensionsfonds. Die Forderungen nach kurzfristigen Erträgen wurden zu dem Zeitpunkt lauter, als die Risikobereitschaft zurückging. Das brachte Unternehmen in Zugzwang, die darauf mit einer Verringerung ihres Betriebskapitals reagierten. Letztlich (und darin spiegeln sich sonstige Veränderungen in der Gesellschaft wider) forderten die Beschäftigten in diesem dritten Industriezeitalter mehr Mitspracherecht und bessere Chancen auf berufliche Weiterentwicklung.

      Per saldo brachten dieses drei Phänomene die meisten Industrieunternehmen dazu, ihre eigenen Modelle infrage zu stellen. Die frühen Jahre der Automatisierung und Robotisierung hatten dazu beigetragen, die Zahl schwerer, monotoner Arbeiten, die von Unternehmen ausgeführt wurden, zu verringern und dabei zumindest zum Teil die Forderungen nach kurzfristiger Rentabilität zu befriedigen. Etliche Unternehmen setzten auch erste Systeme zur Ressourcenplanung (Enterprise Resource Planning oder kurz ERP) ein. Diese ermöglichten verschiedenen Funktionen den Austausch von Daten, die entweder von Drittanbietern auf dem Markt oder intern aus ihren eigenen globalen Produktionsprozessen bezogen wurden. Dadurch sollte die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten erhöht werden.

      Dessen ungeachtet mangelte es dem dritten Industriezeitalter an einem Organisationsmodell, das das Management großer Unternehmen und komplexer Lieferketten möglich machen konnte, ohne zu starke Abstriche beim Betriebskapital oder der Servicequalität für die Endnutzer zu verursachen. So konnte ein System entstehen, dessen Betriebsgrundsätze mit dem Taylorismus brachen, der die vorausgegangene Ära bestimmt hatte. Das neue System, das zunächst als Toyotismus bezeichnet wurde – und später als schlanke Produktion –, reagierte auf die drei erwähnten Herausforderungen, indem es ein Wertschöpfungskonzept förderte, das den Endnutzer in den Mittelpunkt aller internen Praktiken stellte. Das Konzept beruhte auf drei Grundprinzipien. Das erste bestand im Austesten „schlanker Abläufe“ in Reaktion auf die Notwendigkeit, Betriebskapital durch weniger Lagerhaltung zu verringern. Das zweite war das System zur Qualitätsüberwachung, das auf der Vorstellung fußte, alles