»Frische Luft macht durstig«, sagte sie und nickte mir freundlich zu. Leidlich von ihren Schals befreit, sah sie bei weitem nicht mehr so alt aus, wie ich anfangs geglaubt hatte. Ihr langsamer Gang und die unterstützenden Maßnahmen ihrer Tochter hatten getäuscht. Ihr Haar war zwar grau, fast weiß, und sie war von dünner Statur, aber sie hatte ungeheuer wache Augen, beobachtend, und einen rosa Teint. Die Ähnlichkeit von Mutter und Tochter lag in den schnellen Gesten und im Gesicht, auch wenn das der Mutter sehr viel schmaler war. Aber es schien weniger das Alter zu sein, das sie aushöhlte, als eine konstitutionelle, aristokratische Knochigkeit.
»Wir denken schon lange daran, zu verkaufen«, sagte Fräulein Silfverlod und kam zögernd der Aufforderung ihrer Mutter nach, das Glas noch einmal vollzuschenken. »Obwohl es schon schwer ist, wenn man wie ich fast sein ganzes Leben hier verbracht hat. Aber das Haus ist einfach zu groß für zwei alleinstehende Frauen. Und Mamas Gesundheit ist nicht die beste. Für sie wäre betreutes Wohnen in einer kleinen Wohnung in der Stadt viel besser, als hier in der Abgeschiedenheit im Wald zu wohnen. Jedes Mal, wenn ich unterwegs bin, bin ich ihretwegen schrecklich beunruhigt.«
»Unsinn«, sagte Frau Silfverlod und lockerte einen Schal. Ihre Stimme klang jung und energisch und ein wenig heiser. »Ich komme ausgezeichnet zurecht. Aber du solltest dich frei machen und dein Leben nicht damit verplempern, auf eine alte Schachtel wie mich aufzupassen. Natürlich verkaufen wir. Das haben wir doch schon so oft durchgesprochen. Frag die Herren lieber, was sie zahlen wollen. Das Haus hat ein paar Reparaturen nötig, dafür ist das Grundstück schön groß und weitläufig. Und es wäre noch größer, wenn wir nach dem Tod meines Mannes nicht gezwungen gewesen wären, den kompletten Wald zu verkaufen, um die Erbschaftssteuer zu bezahlen. Für Reparaturen hat es danach vorne und hinten nicht gereicht. Die Steuern in diesem Land ... Ist das möglicherweise Ihr Ressort, Herr Staatsminister?«
Der Staatsminister murmelte, dass er zwar Steuern zahle, aber ansonsten unschuldig sei.
»Bitte, Mama«, sagte Fräulein Silfverlod vorwurfsvoll und zupfte an einem ihrer Schals.
»Ich will euch sagen, was aus diesem Land geworden ist«, fuhr Frau Silfverlod unbeirrt fort. »Eine Einparteiendemokratie. Eine Einparteiendemokratie, erträglich nur durch die Lotterie und das Recht eines jeden Bürgers, zollfrei zwei Flaschen starken Wein aus dem Urlaub auf den Kanarischen Inseln einführen zu dürfen. Wir sollten die Wahlen und den Abgabetermin der Steuererklärungen auf den gleichen Tag legen, auf den fünfzehnten Februar. Da würdet ihr schon sehen, wie schnell es einen Machtwechsel gäbe! Warum hast du die Flasche weggestellt, Maude?«
»Bitte, Mama ...«
»Jajaja. Sei ein liebes Mädchen. So, ja, voll bitte. Wir haben Ihre Anzeige im Dagbladet gelesen. Wir lesen ausschließlich das Dagbladet. Wenn ich mal sterbe, soll dort meine Todesanzeige erscheinen. Und nur dort. Merk dir das, Maude! Wirtschaftlich mag es mit diesem Haus bergab gegangen sein, aber wir besitzen zumindest noch Kultur und Geschmack. Es hätte schlimmer kommen können ...«
»Bitte, Mama, die Herren sind gekommen, um über das Haus zu sprechen!«
»Aber das tu ich doch! Es stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert, da haben sie sich noch aufs Bauen verstanden. Das Dach ist aus echtem Kupfer. In dem einen Turm regnet es durch, wenn der Wind aus Nordosten kommt. Und in dem anderen haben wir eine Weiße Frau. Die alte Eleonora Silfverlod, die Großmutter meines Mannes ...«
Die alte Dame bot die Ware feil, unterstützt von ihrer Tochter, und der Staatsminister wäre bei dem doppelten Beschuss um ein Haar in die Knie gegangen und hätte auf der Stelle unterschrieben, besann sich aber noch einmal eines Besseren und bat um eine Hausbegehung.
Dieses Mal ging ich mit. Es war eine beklemmende Wanderung durch ein Holzschloss, das vier Generationen überlebt hatte, aber kaum noch eine fünfte überstehen würde.
»Glaubst du, das hält eine Horde Kinder aus?«, gab ich zu bedenken, als wir durch den Wald heimwärts spazierten.
»Das Dach muss natürlich neu gedeckt werden«, murmelte der Staatsminister. »Und der Boden neu verlegt. Und die Wände ausgebessert werden. Aber der eigentliche Kern ist gesund«, fügte er hinzu, ein wenig metaphysisch.
So faselte er weiter über das Haus. Während ich an Fräulein Silfverlod dachte.
Wie reizend und fürsorglich sie zu ihrer alten Mutter war! Und dieses weich geformte Gesicht und die lebhaften Augen! Sie hatte mich angelächelt, als wir uns verabschiedeten. Na ja, wahrscheinlich lächelten alle Gastgeberinnen ihre Gäste an, besonders, wenn sie gingen ... Ich fragte mich, wie sie mich wohl wahrgenommen hatte. Als alten Mann? Das wäre nur natürlich, immerhin war ich gut und gern zwanzig Jahre älter als sie. Oder sah sie in mir mehr einen Gleichaltrigen, fast Gleichaltrigen? ...
Ich stieß meinen Stock in den Boden. Wieso sollte eine nach wie vor junge, nach wie vor hübsche Frau überhaupt einen Gedanken an mich verschwenden?
6
Daheim im Präsidentengut rüstete Johan Åkerblom zum Mittagessen. Er rannte hin und her, als wäre ein Feuer ausgebrochen, vermutlich auf der Jagd nach einem verschollenen Küchengerät. Im Vorbeilaufen rief er, dass er ein paar Nachbarn zum Essen eingeladen habe, was mir ein recht ehrgeiziges Unterfangen schien für einen Mann, der noch nicht mal seinen Pfannenwender unter Kontrolle hatte. (Meiner liegt in der zweiten Schublade von oben in der Küchenanrichte, im dritten Fach von rechts. Ich würde ihn im Schlaf finden, aber ich brate nachts nie was.)
Wir machten es uns im Wohnzimmer gemütlich. Die Zeitungen begannen bereits, das am Vorabend eingebüßte Terrain zurückzuerobern. Frische Exemplare krochen über den Tisch bis zum Sofa. Von dort breiteten sie sich auf einen angrenzenden Sessel aus. Ein aufgeschlagenes Exemplar vom Dalademokraten hatte den kompletten Klavierhocker okkupiert.
Nach einer Weile gesellte sich Präsident Åkerblom entspannt zu uns und teilte mit, dass das Gratin jetzt im Ofen stehe und keine unmittelbare Zuwendung mehr verlange. Auf dem Weg zum Sofa geriet er in die Fänge des Östgöta Correspondenten, riss sich los und versuchte, auszuweichen, was dazu führte, dass er sich um die eigene Achse drehte und kopfüber auf dem Sofa landete. Er fuhr sich nervös mit der Hand durch die Stirntolle, als der Staatsminister wissen wollte, welche Gäste erwartet würden.
»Ach, bloß das Pastorenehepaar, Hubert und Harriet Hallander. Wir sind uns heute Morgen bei der Geflügel- und Imkergenossenschaft über den Weg gelaufen, und da stellte sich raus, dass sie es vor dem Seniorenkränzchen kaum noch schaffen, was zu kochen; also habe ich ihnen angeboten, um zwölf Uhr was auf den Tisch zu bringen. Und dann kommt noch Doktor Körmendi. Er wohnt auch ganz in der Nähe. Wir laden uns hin und wieder gegenseitig zum Mittag- oder Abendessen ein. Na ja, meist lädt Elsa ihn ein, weil er es nicht so mit dem Kochen hat. Er ist ja unverheiratet und immer allein, der arme Kerl. Ich verstehe gar nicht, wie er es schafft, dass es bei ihm immer so sauber und ordentlich ist. Er ist Unterarzt am städtischen Krankenhaus und forscht nebenbei. Ungar, übrigens, kam sechsundfünfzig als Flüchtling hierher. Inzwischen ist er schwedischer Staatsbürger. Da kommt er ja! Jesses, das Gratin!«
Der Präsident entfleuchte in die Küche, und ich trat ans Fenster.
Wohl jeder von uns hat das eine oder andere vorurteilsgeprägte Bild von bestimmten Berufsgruppen. Der Lehrer zum Beispiel wird schnell zum humorlosen, nörgeligen, von Sodbrennen geplagten Pedanten, der in ausgebeulten Hosen zur Schule rennt. (Ich kann mir kaum vorstellen, dass irgendjemand mich in dieser Beschreibung wiedererkennen würde. Ich habe meine Beinkleider immer sehr pfleglich behandelt und kann mich nicht erinnern, jemals gerannt zu sein.) Den Arzt wiederum stellen wir uns gern als würdige und erhabene Erscheinung vor, die im eleganten, leise schnurrenden Wagen zur Sprechstunde vorfährt. Unter dem weißen Kittel trägt er englisches Kammgarn. Rosiger Teint nach der morgendlichen Golfrunde, gepflegtes Haar, allenfalls ein soignierter Oberlippenbart mit silbrigen Einsprengseln. Mein Herzspezialist am Norr Märlarstrand sieht so aus.
Doktor Körmendi passte ganz und gar nicht in dieses Bild.
Er kam auf einem