»Ich dachte schon, Kommissar Wallman hätte seine Isolation aufgegeben und mir damit meine einzige Eintrittskarte in das hiesige Gesellschaftsleben genommen: etwas darüber berichten zu können, wie er hinter seiner Mauer lebt. Ich bin der Einzige, den er zu sich lässt. Zumindest aus dem Ort. Ansonsten hat er wohl ein paar Schwestern in Stockholm, die ihn ab und zu besuchen dürfen. Meine Besuchserlaubnis habe ich meiner Eigenschaft als Arzt zu verdanken. Und auch das nur zu ganz bestimmten Zeiten: jeden zweiten Samstag um zwei Uhr nachmittags. Ich komme mir vor wie ein Gefängnisarzt. Riegel klirren, wenn ich ankomme, und Riegel klirren, wenn ich gehe.«
Der Staatsminister fragte, ob es die Schussverletzung sei, die eine ärztliche Behandlung erforderte.
»Nein, die macht ihm keine akuten Beschwerden. Abgesehen von der Lähmung, natürlich. Er hat ein chronisches Ekzem, das beobachtet und behandelt werden muss. Und wenn ich schon dabei bin, höre ich noch gleich sein Herz ab und messe den Blutdruck. Damit nimmt er es sehr genau, obgleich seine Werte immer bestens sind. Der Kerl ist stark wie ein Ochse.«
»Ist er schon lange Ihr Patient?«, fragte der Staatsminister.
»Lassen Sie mich überlegen – im Herbst dürften es drei Jahre sein. Bis dahin hat sich ein Kollege aus dem Krankenhaus um ihn gekümmert, aber der ist weggezogen und hat mich als seinen Nachfolger vorgeschlagen. Ich bin ja auch Hautarzt. Eigentlich habe ich keine Zeit für Privatpatienten, aber ich war neugierig, was das wohl für ein Kauz ist. Und außerdem sind wir ja fast Nachbarn. Und so reiße ich mich also jeden zweiten Samstag von meinen Reagenzgläsern los und radele zu ihm.«
»Und wieso hat er sich so komplett vom Rest der Welt abgeschottet?«, fragte ich.
Der Arzt zuckte mit den Schultern.
»Er zieht mich nicht ins Vertrauen. Ich bin für sein Ekzem zuständig und für meine Messungen, aber dann habe ich zu gehen. Ich gehe aber davon aus, dass es mit der Schussverletzung zusammenhängt. Er hat Ihnen doch sicher erzählt, dass er bei der Ausübung seines Dienstes angeschossen und danach pensioniert wurde? Ja, das käut er ständig wieder, wenn ich bei ihm bin, es ist sozusagen sein einziges Gesprächsthema. Er war vorher wohl schon nicht sonderlich sozial, aber nach seiner Verabschiedung hat er es mit der Isolation wirklich auf die Spitze getrieben. Eine gewisse Zurückgezogenheit ist in seiner Situation ja nachvollziehbar. Es ist schließlich nicht so einfach, sich in die Öffentlichkeit zu begeben, wenn man an den Rollstuhl gefesselt ist. Und er hat ein großes Haus und einen Park, wo er sich bewegen kann und frische Luft bekommt. Aber dass er nie sein Grundstück verlässt oder anderen Menschen gestattet, ihn zu besuchen, ist schon ein wenig schrullig. Wenn Sie mich fragen, will er sich den Leuten nicht als Invalide zeigen. Für einen großen und kräftigen Kerl wie ihn ist es wahrscheinlich unerträglich, im Rollstuhl sitzen zu müssen. Und verbittert ist er obendrein. Er fühlt sich abgeschoben. ›Wenn ihr nichts mehr mit mir zu tun haben wollt, das könnt ihr haben. Ich werde euch schon zeigen, dass ich auch allein zurechtkomme.‹ Gekränkt, verbittert, voller Hass. Aber vor allen Dingen hat er Angst.«
»Angst?«
»Ja. Die Mauer war schon vor seiner Zeit da, aber er hat sie mit Stacheldraht versehen und die Alarmanlage installiert, sowohl auf der Mauer als auch im Haus. Dann hat er Pappeln hinter der Mauer gepflanzt und keinen Baum mehr im Garten gefällt. Die Haushälterin hat erzählt, dass er nur die Wege im Park benutzt, die nicht von außen einsehbar sind. Am liebsten sitzt er aber auf der Veranda oder auf dem Balkon im oberen Stockwerk, wo er komplett vor den Blicken von außen geschützt ist. Die Jalousien in seinem Zimmer sind immer runtergelassen. Und er trägt immer eine Pistole bei sich.«
»Und wovor hat er Angst?«
Der Arzt zögerte mit der Antwort.
»Anfangs glaubte ich, der Mann litte an Verfolgungswahn, ausgelöst durch die ungerechte Behandlung, der er sich nach dem Unglück ausgesetzt fühlte, und verstärkt durch die selbst auferlegte Einsamkeit in seinem Bunker. Ich dachte also, es wäre eine eingebildete Gefahr, gegen die er sich mit all den Schlössern und Alarmanlagen zu schützen versuchte. Aber das glaube ich inzwischen nicht mehr. Sehen Sie sich ihn doch an! Sicher, er ist reizbar und in vielerlei Hinsicht merkwürdig. Aber im Grunde genommen ist er ein ganz nüchterner und kontrollierter Mensch. Nicht die Spur hysterisch. Er schützt sich methodisch und äußerst gründlich gegen jemand oder etwas vor der Mauer. Das, was Kommissar Wallman Tag und Nacht umtreibt und wogegen er sich mit aller Macht zu schützen versucht, ist, dass irgendwer die Mauer oder das Eingangstor überwindet, durch den Garten ins Haus eindringt und ihn tötet.«
8
Das Pastorenehepaar war zu seinem Seniorenzirkel weitergewandert, und Doktor Körmendi hatte sein Rad bestiegen und war, eingehüllt in Regenmantel, Mütze und Bart, in Richtung Krankenhaus davongestrampelt. Wir Übriggebliebenen saßen beim Kaffee und plauderten über die Abwesenden.
Mir war gerade wieder eingefallen, wie Frau Hallander die Schilderung über die seelsorgerische Gemeindearbeit ihres Mannes mittendrin unterbrochen hatte, und fragte die anderen deswegen.
»Tja«, sagte Präsident Åkerblom und kratzte sich in der melierten Tolle. »Hubert liebt es, sich um seine Schafe zu kümmern. Das Problem ist nur, dass die Schafe davon gar nicht so angetan sind. Unser guter Pastor vertritt nämlich ein wenig ... was soll ich sagen ... freie Ansichten.«
»Freie Ansichten?«, platzte ich heraus. »Bei seinem Aussehen hätte ich schwören können, dass er fromm und kirchentreu ist! Aber bei diesen jungen Pastoren weiß man ja nie.«
»Na ja«, sagte Johan Åkerblom, nahm die goldumrahmte Brille ab und begann sie zu putzen. »Er predigt nicht unbedingt die Auflösung der Sitten und die allgemeine moralische Befreiung. Bei ihm geht es eher in die entgegengesetzte Richtung. Er glaubt zum Beispiel an die Hölle.«
»An die Hölle? Teufel aber auch!«, mischte der Staatsminister sich mit einer spontanen Stillosigkeit ein, die ihm so eigen ist.
»Und er versetzt die Konfirmanden mit drastischen Abbildungen vom Teufel in Angst und Schrecken. Ich habe sie selbst gesehen. Ziemlich gewagt, muss ich sagen. Ich bin, weiß Gott, kein Angsthase, aber danach habe ich die halbe Nacht wach gelegen und musste schließlich eine Schlaftablette nehmen. Die Eltern behalten ihre Kinder inzwischen zu Hause.«
»Die Gattin schien mir auch ein wenig mitgenommen«, sagte ich.
»Ja, und langweilen wird sie sich obendrein im Pfarrhaus. In Stockholm hat sie als Bibliothekarin gearbeitet, aber hier hat sie bis jetzt noch keine Stelle gefunden. Nicht mal ein Auto haben sie mehr. Aber sie malt Aquarelle.«
»Doktor Körmendi hat auch kein Auto«, bemerkte der Staatsminister.
»Nein, das musste er während der Ölkrise verkaufen. Inzwischen fährt er nur noch Rad. Eine halbe Stunde zum Krankenhaus und eine halbe Stunde zurück, das hält fit, sagt er. Aber in Wirklichkeit hapert es wohl eher am Geld. Das Haus ist mit Hypotheken belastet, und ein Großteil seines Gehaltes fließt in die Tilgung von Bankzinsen. Ich habe ihm unter die Arme gegriffen, so gut ich konnte. Es ist seine Forschung, die so gnadenlos viel Geld verschlingt. Die Forschungsmittel vom Land reichen nicht lange. Er spielt schon seit längerem mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern, habe ich gehört, und wenn ihr mich fragt, sollte er lieber heute als morgen Nägel mit Köpfen machen. Finanziell würde er sich dort auf alle Fälle besserstehen ...«
Nachdem Johan Åkerblom zu irgendeiner Landtagsveranstaltung aufgebrochen war, schlug der Staatsminister vor, einen Spaziergang zu machen. Wir folgten der staubigen, friedlichen Landstraße und passierten die Abzweigung zum Wohnsitz der Damen Silfverlod. Ich ertappte mich dabei, wie ich in Gedanken Fräulein Silfverlod und Frau Hallander miteinander verglich. Mit den Augen der Allgemeinheit betrachtet, war die Pastorenfrau zweifellos die Hübschere, Augenfälligere. Ihre Kleidung war ausgewählter, ihr Geschmack raffinierter. Und sie war sicher zehn Jahre jünger. Aber wie viel weicher und fraulicher war Fräulein Silfverlod! Ich bin nicht verheiratet. Es hat sich nie ergeben. Aber natürlich träume ich oft von einer Frau an meiner Seite. Und meinen Träumen entsteigt sie als warmes, zuverlässiges und reifes Wesen, so wie ich Fräulein Silfverlod erlebt habe. Inzwischen bin