Pächter der Zeit. Thomas Flanagan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Flanagan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711483978
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von bei Paraden und Prozessionen getragenen Bannern. Rosiges fleischiges Gesicht, stämmige Schultern, eine Hand in die Seite gestemmt, die andere erhoben. Als ob ein Clanhäuptling in einen modernen Anzug gezwängt worden wäre.

      »Eine Stimme«, wiederholte Tully verwirrt.

      »Er kam und er ging«, fuhr Vincent fort. »Und er hat uns da gelassen, wo Jesus die Juden gelassen hat. Er ist in Italien gestorben, nicht, wahr, im Rufe der Heiligkeit, zur Zeit der Hungersnot, als Irlands Verhungernde hilflos zusehen mußten, wie Korn und Vieh für die englischen Tafeln abtransportiert wurden.«

      »Die Hungersnot war eine entsetzliche Heimsuchung, gegen die Menschen nichts vermochten, aber sie liegt jetzt Gott sei Dank hinter uns. Es geht uns nicht so schlecht, mein Junge, den Tullys und Leuten wie uns. Sieh dir doch die Möbel in diesem Zimmer an, die Tische und alles, was selbst ein Protestant voller Stolz sein eigen nennen würde. In Limerick und auch in West Cork heißt es: ›Die Tullys. Wenn du in West Cork Geschäfte machen willst, dann mit den Tullys.‹ Wir sind im Aufsteigen.«

      Als Vincent mir diese Worte wiederholte, sah ich vor mir das Bild der aufsteigenden Tullys, eine triumphierende und unwiderstehliche Prozession. Und doch würde Tully für die Ardmors hinter ihren stolzen Toren und für die anderen adeligen Familien immer »Tully mit dem Laden«, bleiben, man würde sich an die Hütte des Hökers erinnern. Und für die kleinen Bauern aus dem Gebirge würde diese Prozession kein mitreißender Anblick sein. Gombeen-Männer unterwegs. Aber man wußte ja schließlich nie. Haben nicht auch die Fugger und die Medici klein angefangen?

      »Du kannst das alles wegwerfen, Vincent, wenn du weiter mit einem Burschen wie Nolan zusammen bist. Aber das weißt du selber, du bist doch ein kluger Junge. Du hast mehr in dir als Bob Delaney, und deine Erziehung war besser als die des Schulmeisters. Hughie MacMahon hat Queen’s College nie von innen gesehen.«

      »Und Bob Delaney«, fragte Vincent. »Wirst du den auch warnen?«

      »Mehr als warnen, bei Gott«, antwortete Tully. »Ich brauche Bob, er leistet im Laden gute Arbeit, aber er hat nicht unser Blut. Wenn er Schande oder Unehre über den Laden brächte, dann würde ich ihn mit einem Pfund aus dem Haus jagen, für das er in Queenstown die Überfahrt bezahlen kann.« Sein rötliches Gesicht wirkte verzerrt, als ob er die Tränen zurückhalten müßte.

      Zuneigung, ein schweres, träges Tier, rührte sich in Vincent. Er setzte sein Glas auf den Tisch, beugte sich über seinen Vater und legte ihm die Hand auf den Arm.

      »Die Tullys werden nicht untergehen, Vater. Du hast das selber gesagt. Einer von uns geht diesen Weg, ein anderer einen anderen.«

      »Ich weiß nichts über Wege«, erwiderte Tully. »Aber ich weiß, was für uns das Beste ist.« Er legte die Hand auf die seines Sohnes und umklammerte sie.

      Und so verließ Vincent ihn und ging in sein Zimmer hinauf. Aber er blieb in der Tür stehen. Sein Vater saß bewegungslos da. Er hatte den Kopf von der Tür abgewandt und blickte auf den schweren rosa-weißen Marmor des Kamins, als ob er in dem kühlen, schönen Stein Trost finden könnte.

      »Da hast du es«, sagte Vincent. »Er hat seinen Verdacht, aber er wagt nicht, ihn auszusprechen, aus Angst, er könnte sich bewahrheiten. Er hat auch seinen Aberglauben, weißt du.«

      »Er liebt dich, Vincent«, sagte ich. »Und er hat Angst um dich. Und dazu hat er schließlich auch allen Grund.«

      »Ja, nicht wahr?« meinte Vincent. »Aber dieses eine Mal steht die Zeit auf unserer Seite. Du spürst es überall. Es ist bald soweit. Bei Gott, Hughie, das wird ein Tag!«

      Im Kerzenschein lächelte Nolan mich an. Ein Totenschädel.

      »Ein Tully nimmt diesen Weg, ein anderer den anderen«, sagte Vincent.

      Er nahm zwei Zigarren aus seinem eleganten Zigarrenetui, und als er meiner Feuer geben wollte, funkelten seine goldenen Manschettenknöpfe auf ihrem Bett aus schneeweißem Leinen. Er lächelte mich, seinen Vater, sich selber an. Er hatte die Gabe der Eleganz. Eine unerwartete Gabe, die die Gelehrten mit ihren Tabellen von Wesenszügen, die von einer Generation an die nächste weitergereicht werden, beschämte. Die Tullys waren ein schweres, gewichtiges Geschlecht, mit Ausnahme von Vincent.

      Eine Pharaonendynastie. Wenn ich mich an Dennis Tully erinnere, dann sehe ich ihn immer im Laden oder in dem feinen, überfüllten Haus, niemals aber allein, mit klarem Raum vor klarem, freiem Hintergrund. Und doch muß ich ihn oft so gesehen haben, wenn er nach der Messe die Kirchentreppe herunterkam oder mit fest auf dem Kopf verankertem Hut den Marktplatz überquerte. Immer sehe ich ihn, wie er sich zwischen Dingen bewegt, in einer dichten Atmosphäre von Objekten.

      Der Laden war mit ihnen vollgestopft – Speckseiten, Schaufeln und Spaten, Mehlfässer, Besen, Flaschen mit Einreibemitteln, Süßigkeiten für die Kinder, Krüge mit eingelegten Früchten, Tuchballen, Fäßchen mit Nägeln, Pappkartons, Teekisten. Hinter der langen Theke gab es Reihen von Schubladen und Verschlägen, höhlenhafte unten in Bodenhöhe, weiter oben immer kleinere, ganz oben unter der Decke waren sie klein und geheimnisvoll. Bob Delaney hatte auf allen sorgfältig den Inhalt notiert, aber Tully brauchte solche Schildchen nicht. Er erkannte den Inhalt jeder Schublade an der Maserung des Holzes, an Fehlern im Lack.

      Höflich und aufmerksam bewegte er sich zwischen Fässern und Kisten. Jede Transaktion, wie kompliziert sie auch sein mochte, ungeachtet ihrer Proportionen von Bargeld und Kredit, war eine Ziffernfolge, die er jederzeit klar und abrufbar im Kopf hatte. Er schrieb diese Summen für seine in Fries oder schwarze Hemden gekleideten Kunden, von denen viele nicht lesen oder schreiben konnten, auf Papierstreifen. Für Tully waren diese Transformationen von Kupfermünzen und Schillingen jedoch erst komplett, wenn Bob sie in eines der Kontobücher eingetragen hatte. Den ganzen Tag über wurden die Duplikate der Papierstreifen auf einen Holzdorn aufgespießt, später, eine Stunde vor Ladenschluß, wurden sie von Bob in die Kontobücher übertragen. Die Kontobücher waren Mysterien, denn in ihnen wurden die Zinsen hinzugezählt und regelmäßige Raten festgesetzt. Und auf diese Weise wurden Gegenstände – Nägel und Süßigkeiten und gepreßter Tabak – ganz und gar ätherisch, unsichtbar und unberührbar, ohne Geruch, außer dem schwachen Duft getrockneter Tinte. Aber im Laufe der Zeit, egal, wie diese Zeit festgesetzt wurde, wurden sie rematerialisiert, wurden durch eine Art Transsubstantiation zu einem Tischservice, einer Garnitur Samtportieren, Unterricht im Queen’s für Vincent und bei den Ursulinerinnen für Agnes.

      In Kilpeder hieß es immer, Tullys erster Schritt ins Gewerbe des Geldverleihers, in seine Karriere als Gombeen-Mann im wahrsten Sinne des Wortes, habe darin bestanden, sich einem Bauern namens Matthew Dennehy, einem Pächter der Ardmors, gefällig zu erweisen, der vier volle Quartale in Rückstand geraten war und dem der alte Everard Chute, damals Verwalter des Gutes, bereits den Räumungsbefehl überstellt hatte. Ich weiß nicht, ob das Tatsache oder Sage war, aber Dennehy lebte noch, als ich die Schule neu übernahm, und ich verfiel auf die Laune, ihn wie ein historisches Relikt zu studieren, wie man vielleicht einen uralten Kapitän auf halbem Sold studieren würde, der einst in Brienne den jungen Bonaparte mit Schneebällen beworfen hatte.

      Ich stellte mir vor, wie sie nachts zusammen sitzen, zwischen sich eine Flasche, im alten Laden am Ende der Gasse. Und zwischen den Schlucken, beim Knacken seiner groben Fingerknöchel, sagt Dennehy noch einmal, daß er einfach keinen Ausweg mehr sieht. Schließlich, behutsam, ängstlich angesichts dieses folgenschweren Schrittes, sagt Tully: »Weißt du, Matt, es gibt vielleicht einen Ausweg.« Und Dennehy, der auf den Lehmboden gestarrt hat, sieht zu ihm auf. »Der Laden ist nämlich dieses Jahr gut gelaufen, Gott sei Dank, und ich habe das eine oder andere Pfund beiseitelegen können.« Und dann, die Augen leicht von Dennehys flehendem Blick abgewandt, holt er tief Atem: »Aber wie das so ist, Matt, ich hätte gern etwas mehr zurück, als ich dir geben könnte… Wenn du wieder auf die Beine gekommen bist, natürlich. Das ist nur recht und billig, nicht wahr? Das ist nicht mehr oder weniger als sonst, wenn ich dich und die anderen hier im Laden anschreiben lasse.« Und Dennehy sagt sofort, wobei seine Worte sich in seiner Aufregung überschlagen: »Wirklich recht und billig, Dennis. Du mußt schließlich an deine Familie denken.« Tully nimmt ein Stück Papier, berechnet, wie hoch die vollständige Summe sein wird, das jetzt geliehene Geld und die