Pächter der Zeit. Thomas Flanagan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Flanagan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711483978
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und lärmende Pferdebahnen gewöhnt waren, ihre Erinnerungen klammerten sich an Hügel im Sonnenschatten, an Wollgras, an eine gewundene Straße, an Stimmen und Hitze winterlicher Schenken. »Hier gibt es ein zweites Irland«, schrieb O’Mahony. »Ungebrochen. Sie würden Geld schicken, und Männer. England hat sie von zu Hause vertrieben, und das wissen sie genau.« Sie brauchten ein Signal, schrieb er, sie müßten erfahren, daß ihr Land noch nicht tot ist.

      Und deshalb begab Stephens sich auf seine Wanderung, auf der er in verstreuten, wirren Polizeiberichten seine Spur hinterließ, in der Erinnerung alter Männer, die die Zeit aufgeblasen und vergrößert hatte, durch den Stolz auf ihre eigene vergangene Jugend.

      »Nun, in meiner Stadt, in dieser Stadt«, hatte ein alter Mann aus Cahirciveen, zahnlos, Wangen wie gemaserte Holzäpfel über unrasierten Stoppeln, gestreiftem, am Kragen sorgfältig zusammengestecktem Hemd, Prentiss erzählt, »waren wir ein Pulverfaß, das nur auf den zündenden Funken wartete, und James Stephens war der Funke – Mr.Shook, wie er genannt wurde, an seabhac, der Habicht. Wir trafen uns mit ihm in Pat Sullivans Schenke, unter der Nase der Peelere in der Wache gegenüber. Ich war damals sechzehn, und ich war der Jüngste in Cahirciveen, dem Mr. Shook den Eid abnahm. Das ist eine Tatsache, Mr. Prentiss, und sollte aufgeschrieben werden.« Pat Sullivan, dachte Prentiss, und der Name glitt an seinen Platz: mit O’Connor beim Angriff auf die Küstenwache, lebenslänglich Zuchthaus. Der alte Mann saß zwischen Tochter und Schwiegersohn. Die Tochter traktierte Prentiss mit Tee und Brot, das Brot wimmelte nur so von Rosinen und war mit Zucker glasiert. Mit verlegenem Stolz, wachsame Augen auf den alten Mann gerichtet, nickten sie. »Stephens war ein gutgebauter Mann, mit kräftigen Gliedern und kohlschwarzen Augen. Ich erinnere mich noch gut an ihn, er hatte einen schwarzen Bart. Ein kluger Mann, der vor langer Zeit Lokomotivführer gewesen war. In Killenaule, im Jahre 48, war er verwundet und als tot liegengelassen worden. Er kroch hinter eine Hecke und versteckte sich. Haben Sie das gewußt, Mr. Prentiss?« Ja. Mr. Prentiss hatte das gewußt. Zwei Drucke hingen einander gegenüber. Das Herz Jesu – kalkweiß und zinnoberrot, der Zeigefinger ruhte auf dem wundersamerweise offen daliegenden Herzen – und die ovalen Photographien der Märtyrer von Manchester, Allen, Larkin und O’Brien. Über ihren Köpfen die geschnörkelte Inschrift »God save Ireland«, darunter das Datum ihrer Hinrichtung nebeneinander an einem dreifachen Galgen, 23. November 1867.

      »Zu sechs Monaten Zwangsarbeit haben sie ihn verurteilt«, sagte der Schwiegersohn stolz. »Er hat zwölf Stunden pro Tag in Kilmainham Werg gezupft und Postsäcke genäht. Es heißt in der Familie, daß seine Finger sich davon nie wieder erholt haben.« Finger, die die Postsäcke Ihrer Majestät genäht hatten, ruhten auf knochigen Knien.

      »Aber Mr. Prentiss möchte etwas über James Stephens erfahren«, sagte der alte Mann. »Nur habe ich nicht mehr zu erzählen. Ich habe ihn nur dieses eine Mal gesehen. Er ist niemals nach Cahirciveen zurückgekehrt. Er ist niemals irgendwohin zurückgekehrt. Das war seine Art, er war ein fliegender Habicht. Er war zu schnell für sie, das Gefängnis von Richmond konnte ihn nicht halten.«

      »Er ist erst vor kurzem gestorben«, sagte Prentiss. »Wenn ich vor vier Jahren mit meiner Arbeit angefangen hätte, dann hätte ich mit ihm reden können.«

      Der alte Mann schien das nicht zu hören, schien taub zu sein für Nachrichten über einen Mann, der älter war als er selber, einen vergessenen Mann, der hinter den stuckverzierten Mauern von Blackrock dahingewelkt war. Er sah einen jungen fliegenden Habicht, dunkel vor dem Morgenhimmel.

      Aber Hugh MacMahons Erinnerung war, wie erwartet, zuverlässiger. »Im Zirkel von Kilpeder gab es keinen, dessen Eid bis in die Zeit von James Stephens’ Wanderung zurückreichte. Bob und Vincent und ich waren die ersten, und wir holten den Eid aus Cork nach Kilpeder. Stephens hat meines Wissens unser Dorf nie besucht, obwohl er angeblich in Macroom gewesen ist. Während seiner Wanderung waren wir sowieso allesamt noch Schuljungen, die sich mit Buchstabieren und Rechnen abmühten. Viel später habe ich Leute kennengelernt, die behaupteten, ihm begegnet zu sein, und auch einige, die sich damit brüsteten, daß Mr. Shook ihnen persönlich den Eid abgenommen hätte. Aber im Jahre 65 war Stephens die Nummer eins, coir war sein genauer Titel, Chief Organiser of the Irish Republic, und er war überall zur selben Zeit, in New York, in Paris, in London, verkleidet sogar in Dublin. Ich erinnere mich an seine Flucht aus dem Gefängnis von Richmond im Jahre 1865. Es war das Hauptgesprächsthema in ganz Irland, und sicher auch in London. Meine Güte, es war phantastisch. Nun hatten sie ihn endlich gefaßt, noch dazu am Vorabend des Aufstandes, wie wir damals glaubten, und der Habicht war ins Netz gegangen. Die Regierung und die Zeitungslakaien, wie wir sie nannten, machten gewaltig Wind um diesen Erfolg. Sie brachten Zeichnungen, damit allen klar wurde, was das bedeutete: James Stephens mit abgerissenem Hemdkragen, an Handgelenken und Knöcheln gefesselt, wurde durch das Tor aus düsterem Stein geführt. Bei seiner Vernehmung war die Dame Street schwarz vor Menschen, alle Gentlemen und Ladies kamen von der Residenz des Vizekönigs, um ihn zu sehen. ›Ich bestreite die Gültigkeit englischer Gesetze hier in Irlands sagte er, ›und ich widersetze mich jeder Bestrafung, die sie mir auferlegen können. Ich habe gesprochen.« MacMahons Lachen endete mit einem trockenen Husten. »›Ich habe gesprochen.‹ Tapfere Worte, bei Gott, aber sie versetzten uns in Panik. Bob und Kevin Mangan, der in Macroom das Kommando hatte, fuhren nach Cork, aber dort wußten sie natürlich auch nicht mehr als wir, und Bob kam voller Wut nach Hause zurück. ›Keine Angsts‹, sagte Jackie Keegan zu ihm, ›sie haben noch keinen Käfig, der stark genug ist, um den Habicht zu halten.‹ Dann legte er Bob die Hand auf die Schulter. ›Die reden allesamt wie Schundromane‹, sagte Bob zu mir, aber den Männern gegenüber versuchten wir, tapfer zu wirken, und wenn ich mich richtig erinnere, dann übernahm Bob mit reinem Gewissen Jackie Keegans Worte. Und, beim lebendigen Gott, hatte Keegan nicht recht? Sie konnten Stephens festnehmen, aber den Prozeß konnten sie ihm nicht machen. Zwei Wochen später war er so frei wie ein Vogel. Es war eine riesige Sensation, und sie hatte eine phantastische Wirkung auf die Bewegung.«

      Das stimmte, und Prentiss hatte nur die vergilbenden Zeitungsbände befragen müssen, um das festzustellen. Aber die Flucht war ihm in New York außerdem von John Devoy höchstpersönlich beschrieben worden, der die Gruppe von Männern angeführt hatte, die vor den Gefängnismauern warteten. Gerade und unbeugsam wie ein Schürhaken, wie Ned Nolan einer der niemals Verzeihenden, vermählt mit seinem Eid, Knastbruder, Verschwörer, sah er durchaus nicht irisch aus, sondern wie ein Yankee-Colonel im Ruhestand. »Es war einfach genug«, hatte er gesagt. »Und wieso auch nicht? Ein Binnenjob, wie sie hier sagen. Die beiden Wärter in seinem Block waren eingeschworene Fenier, Breslin und Byrne. Sie brachten ihn durch die innere Mauer und über den Hof, und draußen warteten Kelly und ich und ein Dutzend andere mit einem Strick. Ich weiß noch, daß ein Mann namens Ryan zu mir sagte, als wir die North Circular Road erreichten: ›John, heute nacht haben wir das größte Ereignis der Geschichte miterlebt.‹ Interessantes Urteil über die Kreuzigung.«

      »Und was hat Stephens gesagt?« fragte Prentiss.

      Devoy lächelte grimmig und zündete seine Zigarre wieder an, wobei er sein Streichholz vorsichtig hin und her bewegte und die Zigarre umdrehte. »Stephens? In dieser Nacht hatte er wenig genug zu sagen, obwohl ich glaube, daß er zu Ryans Sicht der Angelegenheit neigte. Er war ein eitler Mann; von dieser Sünde war er besessen, und ein Jahr später wurde sie ihm zum Verhängnis. Aber zum Teufel, es war felix culpa, hätte er denn ohne Eitelkeit das leisten können, was er zehn Jahre früher geleistet hatte? Ein Mann allein, der über Irlands Straßen wandert und den Samen der Revolution verteilt. In dieser Nacht goß es, ein dunkler Novemberregen. Das eine, woran wir nicht gedacht hatten, war ein Mantel für Stephens, und deshalb legte ich ihm meinen um die Schultern. Der Chief Organiser der Irischen Republik kann schließlich nicht am Ufer des Royal Canal herumbibbern. Aber zuerst steckte ich meinen Revolver an eine andere Stelle, und bis wir das Versteck in der North Circular erreicht hatten, machte ich mir schreckliche Sorgen, die Patronen könnten im Regen naß geworden sein.«

      »Sie hätten ihn benutzt«, sagte Prentiss.

      Devoy stieß aromatischen Havannadampf aus. »Wenn ein Peeler uns auch nur gefragt hätte, wohin wir wollten, dann hätte ich ihn aus seinen Stiefeln gepustet. Es tut mir leid, daß das nicht passiert ist. Bisher war noch kein Blut vergossen worden, wissen Sie, und das hätte vielleicht