»Was habt ihr mit Hugh zu tun?!«, entfuhr es Stella, die einen ziemlich roten Kopf bekam.
»Mit wem bitte«, fragte Franco Stella.
»Ach, den kennt ihr nicht. Das ist ein Typ, den ich bei meinem Ausflug in die Nachtwelt von Kapstadt kennenlernte. Nichts von Wichtigkeit. Habt ihr mir nachspioniert? Der arbeitet nämlich bei dieser Firma, die du, Mika, da gemalt hast. GrainBrain. Wie kommt ihr auf die? Ihr macht doch hier in Wein, Alberto! Was wollt ihr von denen? Was ist da los? Ihr schaut alle so bedrückt. Was ist denn passiert?! Ist der Typ gestorben, ihr Spione?!«
Stella war hellhörig geworden. Nach ihrer unglaublichen Liebesnacht mit Franco war Stella wie ausgewechselt. Sie war in allen Belangen der Gegenwart wieder völlig klar im Kopf. Aber da war der Filmriss. Ihr vorheriges Leben als Weltstar schien ausgelöscht zu sein. Auch ihr Ausflug vom Weingut nach Kapstadt war nur äußerst lückenhaft in ihrem zerfledderten Gedächtnis hängengeblieben. „Hugh“ – ??? – schien eine Begegnung gewesen zu sein, die auf die vergangene Woche zu datieren war.
Vielleicht.
Für die Menschen in ihrer Umgebung, allen voran ihrer Mutter, war es entsetzlich mit ansehen zu müssen, welch große Defizite Stella in ihrer Erinnerung hatte. Ja, sie hatte Sarah als ihre Mutter erkannt. Immerhin. Zwischen Müttern und ihren Kindern gibt es eine besondere Verbindung. Das war immer so und wird auch für ewig so bleiben. Dadurch hoffte SAHE, die tolle Malerin aus New York, irgendwann wieder kompletten Zugang zu ihrer Tochter zu finden, aber sicher war sie sich nicht. Denn wenn Sarah/SAHE Stella auf ihrem iPad Gemälde von sich zeigte, reagierte Stella so gut wie gar nicht. „Ach, das ist aber hübsch“, sagte sie vielleicht zu ihrer Mutter, gar nicht wahrnehmend, dass es das künstlerische Werk ihrer Mutter war. Ihr war nicht einmal bewusst, dass sie einen Bruder hatte, Aaron, der ermordet worden war.
Welcher Bruder?
Bei der aktuellen Band glaubte sie, es sei ihre alte Band. Sie redete die Musiker ständig mit falschen Namen an. Die, die ihr noch irgendwie unbewusst im Gedächtnis geblieben waren. Für Franco war es schwer, ihre großen Aussetzer zu akzeptieren. Sie hatte alle Songs im Kopf, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass sie sie geschrieben hatte.
So ging das durch alle Lebensbereiche.
Stelle lebte im Jetzt und Heute.
Dresden?
Tote Mädchen?
Nichts!
Ausgelöscht.
Aber sie erinnerte sich sofort an die Nacht mit Hugh Tellerman, den versoffenen, verzweifelten Genforscher, und seine Verbindung zu GrainBrain. Zwar wusste sie nicht explizit, was in der Nacht geschehen war, aber es war in ihrem Gehirn etwas abgespeichert worden, was sie unter positiv für sich eingeordnet hatte. Sie hatte etwas Schönes erlebt. Deshalb war sie auch rot geworden, als sie GrainBrain-Hugh als Mini-Graffiti gesehen hatte, was Franco nicht entgangen war. Dadurch sagte ihr ihr Unterbewusstsein, das der gezeichnete Mann definitiv Hugh Sowieso sein müsste.
Auch ihr Verhältnis zu Franco war widersprüchlich. Mal ging sie an ihm vorbei, nickte nur mit dem Kopf, dann wieder sprang sie ihn förmlich an und fraß ihn mit Küssen auf. Hielt seine Hand, drückte sie dermaßen intensiv, dass Franco vor Freude Tränen über sein sommersprossiges Gesicht liefen.
Stella – eine Frau in zwei Welten.
Zugänglich, aber auch verschlossene Türen.
»Stella, bitte, wer ist „Hugh“?«
Franco war aufgestanden, hatte sich hinter sie gestellt, seine Arme um ihre Schultern gelegt und nun sah er auch die Skizze von Mika. GrainBrain schien der Schlüssel zu sein.
Doch wer war Hugh ...?
»Mit Hugh habe ich ein paar Sachen getrunken. In einem geilen Musikschuppen. Der Typ stand an der Bar. Ich glaube, wir haben uns auch unterhalten.«
Stella kramte in ihrem Gedächtnis. Fünf Augenpaare waren auf sie gerichtet und sie konnten es förmlich rattern sehen, besser – hören.
Mit sanfter Stimme fragte FB:
»Stella, hat dieser Hugh was mit GrainBrain zu tun? Ist es das? Kennst du seinen Nachnamen?«
»Weiß ich nicht«, antwortete Stella, stand auf, nahm Franco an die Hand und lief mit ihm in den Weinberg.
Filmriss.
FB wäre nicht FB, wenn er nicht sofort kombiniert hätte. Schon hing er über seinem Laptop und durchforstete GrainBrain im Zusammenhang mit einem „Hugh“. Natürlich nicht über das öffentliche Internet. Er ging davon aus, dass er da nicht fündig werden würde. FB hatte sein eigenes Darknet im Darknet. Er hackte sich direkt bei GrainBrain ein. Nicht auf die Homepage, sondern in das interne Netz der Firma. Das dauerte keine zwei Minuten. Schlecht gesichert, die Bude, sagte er zu sich. Das Glück war auf seiner Seite. Es gab in der Firma einen Professor Hugh Tellerman. Die einzige Person, die „Hugh“ mit Vornamen hieß. Und schon ertönte sein Schlachtruf, durch den er in der Hackerszene berühmt geworden war:
»Fuck! Bingooo!!«
Die Freunde erschraken sich, die Weinreben hielten sich die Ohren zu und wurden trotzdem in einer Umgebung von fünf Meilen schocksauer ...
»Geschafft!«
Nun wieder ganz Winnfried von Löske, nicht FB, berichtete er seinen Kumpels:
»Es gibt nur einen Hugh bei GrainBrain. Der ist der leitende Spezialist im Bereich der Gentechnologie der Firma. Professor. Ursprünglich aus New York.«
Und nun betete er in Windeseile die gesamte Karriere des Hugh Tellerman runter. Sachlich, prägnant und wohlformuliert mit sonorer Stimme, die nicht zu einem 13-jährigen passte. Aufmerksam hörten Alberto und Mika zu. Allmählich konnten sie sich das Puzzle aufbauen. Es fehlten noch einige Teile, aber das große Bild war jetzt schon klar:
Es gab eine gewaltige Macht, die die Erde in ihren Festen erschüttern wollte ...
II
Jutta saß wieder einmal, wie jeden Tag, auf dem großen Balkon ihres wunderschönen Hotelzimmers. Der Blick auf die Bucht von Kapstadt versöhnte sie für einen klitzekleinen Moment. Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr trauriges, abgespanntes Gesicht. Auf ihrem schönen Antlitz hatten sich zwischen den Augenbrauen nicht nur kleine Sorgenfalten gebildet, ihre Haut war grau. Trotz der Sonne. Grau. Jutta traute sich nicht mehr in den Spiegel zu schauen.
So soll ich aussehen, mit gerade mal 25 Jahren? Das bin doch nicht ich, ging es ihr jeden Morgen wieder durch den Kopf. Sie konnte ihr Schicksal nicht begreifen. Blieb in ihrer Lethargie stecken.
Was habe ich falsch gemacht? Was habe ich verbrochen, dass ich so gedemütigt werde? Dass ein wildfremder Mensch, dessen Namen ich nicht einmal weiß, mich zwingen kann, meinen geliebten Franco auszuhorchen und ihn letztlich umzubringen? Um nichts Anderes geht es doch dem Scheusal aus New York. Nein, nein, nein! Ich werde ihn austricksen. Niemals werde ich es zulassen, dass dem kleinen hässlichhübschen Italiener auch nur ein einziges Haar gekrümmt wird! Ich bringe doch den Menschen nicht um, den ich am meisten liebe!
Jutta raffte sich endlich dazu auf aktiv zu werden, nachdem sie mindestens eine Stunde einfach nur in die Luft geschaut hatte. Sie zog sich an. Jeans, blauweiße Bluse, knallgelbe Ballerinas, passend zu ihrem knallgelben Rucksack. Wenigstens äußerlich wollte sie fröhlich wirken. Sie verließ das Hotel und schlenderte in Richtung Innenstadt. Einen Plan hatte sie nicht. Wo sollte sie die Suche beginnen? Hotels abklappern würde nichts bringen. Obwohl ...
Ja, ich werde zuerst einmal alle guten Hotels ansteuern. Mich einfach dumm stellen und sagen, dass ich mit Franco Mignello verabredet