Ich muss das Risiko eingehen. Auf mich warten höhere Aufgaben in New York, sprach sich der eiskalte DEA-Agent selbst Mut zu.
Im Hotel angekommen, ging er mit forschem Schritt zur Rezeption. Zückte wieder seinen DEA-Ausweis, der in Südafrika eigentlich gar nichts bedeutet, und forderte die Dame in barschem Ton auf:
»Gefahr in Verzug. In welchem Zimmer wohnt der Gast aus Deutschland, Jutta Spengler!?«
Eingeschüchtert suchte die Rezeptionistin auf ihrem Bildschirm nach Frau Spengler.
»Zimmer 772. Aber sie hat vorhin ausgecheckt. Äh, ich will sagen, Sie kommen zu spät, Sir.«
»Hat sie eine Nachricht hinterlassen? Wissen Sie, wo ich sie finden kann? Ist sie zum Flughafen gefahren?«
»Nein Sir. Sie wurde von zwei Männern abgeholt. Einen davon kenne ich. Er ist Privatdetektiv und hat schon manchmal für unser Haus gearbeitet.«
»Gut. Sein Name, Adresse? Schnell bitte!«
Die Rezeptionistin kramte in einer Schublade und wurde fündig.
»Ich mache Ihnen eine Kopie seiner Visitenkarte, ja?«
Zwei Minuten später saß Wood wieder in seinem Leihwagen, programmierte das Navigationsgerät mit der Adresse des Privatermittlers und raste quer durch Kapstadt. Er kam vierzig Minuten später zu einer Bruchbude von Haus. Das ehemals blanke Messingschild sagte ihm, dass er richtig war. Er klingelte. Keine Reaktion. Wood trat kurzerhand die Tür ein. Eine Heckler & Koch Mark 23 in seiner Rechten. Im Büro des Mannes, der auf den Namen Jojowa Bakate hörte, lagen auf dem Schreibtisch gefühlte einhundert Zettel. Systematisch graste Wood den Tisch ab. Hier: „Jutta u. Masimba.“ Schlecht leserliche Handschrift. Und eine Telefonnummer. Auf der Rückseite des Kärtchens das Bild eines gut aussehenden, jungen Afrikaners mit einer riesig langen Rastamähne. Daneben stand in sorgfältig gemalter Schrift: Kunststudent und Maler.
»Officer, können Sie mir noch einmal helfen? Die Gesuchte ist nicht mehr im Hotel. Aber ich habe eine Handynummer. Bitte orten Sie, so schnell es geht, wo das Smartphone eingewählt ist und rufen mich auf dieser Nummer zurück. Danke. Ist sehr freundlich von Ihnen meine Mission zu unterstützen!«
Südafrika.
Arm und reich.
Reich an Kontrolle und Überwachung.
Arm die meisten Südafrikaner ...
Sieben Minuten später kam der Rückruf:
»Das Handy ist zur Zeit in Swellendam eingeloggt. Finden Sie den Ort?«
»Ich finde jeden Ort! Danke nochmals!«
Wood hatte das Gespräch schon unterbrochen, bevor der dienstbeflissene Officer der Polizeizentrale in Kapstadt noch etwas sagen konnte.
Wieder programmierte er sein Navi und raste erneut quer durch die Stadt. Richtung Osten; eine Fahrt von circa zwei, drei Stunden lag vor ihm.
Mit nur einer guten halben Stunde Differenz – ohne dass sie voneinander wussten – kamen Jojowa und Jonathan, wie auch Wood in Swellendam an. Der Vorteil lag auf Seiten von Jojowa. Er wusste, wo er Jutta und Masimba finden konnte. Sie fuhren auf direktem Weg die drei Kilometer nördlich nach Hermitage. Dort fragte Jojowa die erste Frau, die ihm über den Weg lief, nach einer Schamanin. Bekam die Antwort: »Wir haben nur eine, Neyila. Wir lieben sie. Sie wohnt dort in dem gelben Haus.«
Schon war das ungleiche Team bei dem gelben Haus. Kein Licht. Niemand da. Jojowa ging um das Haus. Im Garten kein Mensch. Er klopfte an der Tür des benachbarten Hauses.
»Ich suche Neyila. Kannst du mir helfen?«
»Sie ist vorhin mit einer weißen großen Frau und einem sehr jungen Rastaman in die Stadt gefahren. Wenn sie in der Stadt ist, geht sie immer ins >Paradise Organic<. Ein kleines Restaurant an der Hauptstraße.«
»Danke!«
Zwölf Minuten später hatten Jonathan und Jojowa das auch bei Touristen angesagte vegetarische Restaurant gefunden.
Jutta schrie laut auf, als sie den kleinen, zerknautschten alten Mann auf sich zukommen sah. Sie sprang vom Tisch auf, stürzte sich förmlich auf Jojowa und drückte ihn, als sei er der Heilsbringer.
Zufall oder nicht: Zur gleichen Zeit fuhr ganz langsam ein Waffenlager an ihnen vorbei. Wood auf der Suche nach der Frau, die er töten sollte. Er sah aus dem Augenwinkel das ungleiche Paar. Stoppte abrupt, fuhr dann langsam weiter und hielt keine zwanzig Meter von dem Lokal entfernt an. Er griff sich seine SIG Sauer, die neben ihm auf dem Beifahrersitz lag, entsicherte sie, schaltete den Rückwärtsgang ein und rollte ganz ruhig und langsam die paar Meter zurück.
Das muss sie sein. Keine andere weiße Frau verirrt sich um diese Zeit hierher. Weisenfeld, ich habe deine Beschreibung der Person verstanden!
Jutta Spengler, ich habe dich!
Und schon schoss er aus der 15-schüssigen 9mm SIG auf die am Tisch sitzenden Personen. Der erste Schuss traf nicht. Die fünf Personen am Tisch sprangen auf. Tumult in dem voll besetzten Lokal. Drinnen und draußen. Schreie und Flucht. Masimba umklammerte beschützend Jutta. In der Sekunde wurde er schon von einer Kugel getroffen. Er sank mit Jutta zu Boden. Jonathan erwiderte inzwischen das Feuer in das Dunkel hinein – die Straße war nicht beleuchtet –, Jojowa warf sich über die Schamanin und drückte sie zu Boden. Keine zehn Sekunden dauerte das grausame Schauspiel. Der das Feuer eröffnende Schütze raste mit seinem Wagen davon. Jonathan schoss noch sein Magazin leer, aber alles ging viel zu schnell.
Masimba: Tot.
Jojowa: Schwer verletzt.
Jutta: Eine Kugel in der Schulter.
Neyila: Sie hatte einen Schutzengel.
Jonathan: Verzweifelt, dass er die Schießerei nicht verhindern konnte.
Das kleine Städtchen war in Aufruhr. Ein Gemetzel wie dieses hatte es in Swellendam noch nicht gegeben. Masimba war direkt ins Herz getroffen worden. Er war ohne Chance geblieben. Er hatte der Frau, die er zu lieben glaubte, als Schutzschild gedient. Mit Erfolg, den er mit seinem eigenen, jungen Leben bezahlen musste. Der brave, alte Jojowa hatte der Schamanin das Leben gerettet. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Lungendurchschuss. Zu hoher Blutverlust. Jutta war in einen Schockzustand gefallen. Ihre Verletzung war – Gott sei es gedankt – harmloser als erwartet. Eine Fleischwunde. Dank der Schamanin Neyila musste sie nach der Entfernung der Kugel nicht einmal im Hospital bleiben.
Neyila wusste, wie man Wunden behandelt. In dem kleinen Krankenhaus kannte man sie und vertraute ihren Fähigkeiten.
Jonathan bewahrte zwar kühlen Kopf und die Übersicht, aber auch er tat sich schwer, das Ereignis des späten Abends einfach abzuschütteln. Er bat die Schamanin ihn und Jutta zu begleiten. Mit Jutta hatte er kaum ein Wort wechseln können. Der brutal erschossene Detektiv und er waren ja gerade erst vor nicht mal zwei, drei Minuten mit ihr und dem inzwischen toten jungen Mann in dem Lokal zusammengetroffen, als der Schusswechsel auch schon losging.
Jonathan hoffte nicht, dass der Angreifer es noch einmal versuchen würde. Er musste an den Angriff auf Stella in Frankfurt denken, als sie mit ihrem nächtlichen Lover nach dem Besuch im Sternelokal auf dem Weg zum Hotel waren. Wieder hatte er einen gepanzerten Wagen, wieder eine bildschöne junge Frau, die – verletzt – schweigsam und tapfer im Fond des Autos saß und dazu eine Schamanin, die sich um die Gesuchte kümmerte. Durch den Rückspiegel beobachtete er, wie sich die etwa sechzigjährige Heilerin um Jutta Spengler kümmerte. Sie sprach auf sie ein, ihre Hände kreisten um die Wunde, ohne sie zu berühren, und zusehends entspannte sich Jutta. Sie lächelte still in sich hinein, schien auch keine Schmerzen zu haben und als sie auf dem Highway 60 in nordwestlicher Richtung auf dem noch weiten Weg nach IN VINO VERITAS waren, war Jutta bereits friedlich eingeschlafen. Jonathan war relativ zufrieden, auch wenn es zwei Tote gegeben hatte. Zumindest hatte er Jutta retten können und seinen wichtigsten Auftrag erfüllt.
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