Das Video war eine Enttäuschung.
Fast alles war unscharf, und da sich die Kamera nur selten bewegte, war Hayakawa nur in den wenigen Fällen zu sehen, da er sich auf der Höhe des Oberschenkels der Leiche befand. Monika stellte fest, daß sie mehr mitbekam, wenn sie die Augen schloß, da die Klangqualität akzeptabel und trotz der sehr schlechten Akustik, die jedes Kratzen und jedes Geräusch von Metall auf Metall verstärkte, fast alles, was gesagt wurde, zu hören war.
Als sie sich die Kassette angehört hatten, wandte Mikael Monika ein ernstes Gesicht zu. So, dachte sie, wird er in zehn Jahren aussehen. Erwachsen, ohne Glanz, ohne den tarnenden Firnis von Charme und Sexualität.
»Du hast recht, du stehst offenbar wirklich vor einem messerscharfen Fall – nein, so war das nicht gemeint, ich schwöre, das war ganz unabsichtlich, vor einem schweren Fall, meine ich. Ich verspreche, dir so gut ich kann zu helfen, aber das setzt natürlich voraus, daß du mich auf dem laufenden hältst. Was hast du zum Beispiel jetzt vor?«
»Nach Hause gehen und schlafen. Danach müssen wir die Dinge wohl nehmen, wie sie kommen. Morgen werde ich jedenfalls zuerst versuchen herauszufinden, wie er gestorben ist, das Ganze hört sich ja ziemlich wirr an, jedenfalls für mich. Alles unter der Voraussetzung natürlich, daß Kommissar Ek meint, mir die Ermittlung anvertrauen zu können, worauf ich allerdings nicht mal einen Zehner wetten würde. Aber egal, ich habe vor, wenn ich den Auftrag bekomme, zuerst zur Psychiatrie zu gehen, wo Gösta Persson gestorben ist, und dann zur Chirurgie, wo er zuletzt behandelt wurde. Danach werde ich versuchen, mit seinen Angehörigen zu sprechen, er hat wohl nur eine Schwester. Und wenn möglich, möchte ich gern seine Wohnung sehen.«
Monika starrte Mikael an, als ob sie ihn auffordern wollte, etwas anderes vorzuschlagen, aber er nickte nur und sagte, das höre sich gut an, sie sei am nächsten Abend zu einem ebenso köstlichen Essen willkommen, und er hoffe, alles werde klappen. Er war sicher, daß sie die weiteren Ermittlungen gut durchführen werde und daß Ek blind sei, wenn er das nicht einsehe. Sie umarmten sich, als sie ging, zum erstenmal an diesem Tag.
Sie brauchte Milch und machte einen Umweg, um ein noch spät geöffnetes Geschäft an der Ecke Hantverkargatan und Scheelegatan zu erreichen, aber der Laden war, das teilte ein von innen an die Tür geklebter handgeschriebener Zettel mit, wegen Krankheit geschlossen. In der U-Bahn-Station gab es noch einen geöffneten Kiosk, aber dem war die Milch ausgegangen. Der Verkäufer oder Kioskbesitzer, was er vermutlich war, da er einige Extrastunden geöffnet hielt, erklärte, daß die Molkerei wegen der Grippe so gut wie funktionsunfähig sei und daß sie deshalb in den nächsten Tagen keine Milch mehr liefern könne. Monika war geschockt, wie wenig dazu gehörte, die Lebensmittelversorgung zu unterbrechen, und fragte sich, ob als nächstes wohl das Brot ausgehen würde. Würden sie dann von den Konserven leben müssen, die noch in den Regalen standen? Und wenn auch die aufgebraucht waren?
Und sie fragte sich, wie sie ihren Morgenkaffee ohne Milch trinken sollte.
6
Am nächsten Morgen verschlief Monika, und deshalb war das Frühstücksproblem nicht aktuell. Sie erwachte mit einem Gefühl des Unbehagens, feuchte Luft drang durch ihr einen Spaltbreit geöffnetes Schlafzimmerfenster, deshalb kam ihr das Zimmer rauh und kalt vor, und sie krümmte sich unter der Decke zusammen. Sie versuchte, im schwachen Licht den Wecker zu sehen, aber sie konnte die Zeiger nicht erkennen, sie sahen nicht so aus wie sonst. Sie fuhr zusammen, als ihr der Grund aufging: Sie hatte eine Stunde länger geschlafen als sonst. Da sie nicht noch einmal zu spät kommen wollte, zog sie schnell dieselben Kleider an wie am Vortag, putzte sich die Zähne, griff nach der Zeitung und lief zur U-Bahn-Station. Es war weniger neblig, aber dafür nieselte es.
Die Morgenzeitung war dünner als sonst, und sie zeigte auf der ersten Seite ein ungeheuer undeutliches Bild der britischen Botschaft. Eine Karikatur zeigte zwei Diebe, die auf ihrem Diebesgut saßen. Der Text lautete: Die schlechte Nachricht ist, daß die Polizei uns auf der Spur ist. Die gute: Es ist die schwedische Polizei. Monika ärgerte sich darüber, auch wenn die Journalisten sie nicht persönlich anklagten. Das Verhältnis von Medien und Polizei war sehr getrübt. Damit war sie aufgewachsen. Lange Artikel, wenn der Polizei irgendeine Regelwidrigkeit vorgeworfen wurde, während ihr Vater und seine Kollegen sich selten oder nie über positive Publizität hatten freuen können. Als Teenager hatte sie ihn nach dem Grund gefragt, und er hatte müde geantwortet: »Die haben wohl kein Vertrauen zu uns.«
Das hatte sie damals geschockt, und es empörte sie noch immer. Sie fühlte sich ungerecht behandelt und war schlechter Laune, als sie das Polizeigebäude erreichte.
Die Sicherheitsbeamten grüßten sie wie eine alte Bekannte, was sie gleich in bessere Stimmung versetzte. Sie lief die Treppe hinauf und war sich dessen bewußt, daß sie in diesem Moment, an diesem Tag hierhergehörte. Niemand brauchte angerufen zu werden, um sie abzuholen, sie war bekannt, sie kannte den Türcode, sie gehörte zur Organisation. Sie kam sich gleich viel größer vor.
Sie war eine Viertelstunde zu spät. Der Korridor war leer, und kein Geräusch wies darauf hin, daß hier Menschen arbeiteten oder auch nur anwesend waren.
Als sie sich in ihrem Zimmer niedergelassen hatte, trat kurze Zeit später ein Kollege ein, der ihr schon wegen seiner Größe aufgefallen wäre.
»Hallo, wir kennen uns wohl noch nicht. Ich bin Jens Andersson, seit undenklichen Zeiten hier als Kriminalinspektor. Kommissar Ek liegt mit fast 41 Grad Fieber zu Hause, und ich soll ihn für die nächsten Tage vertreten. Im Moment versuche ich herauszufinden, welche Kapazitäten wir haben und was zu tun ist. Wie Sie sicher gemerkt haben, ist alle Routine zusammengebrochen, aber der Bezirkspolizeichef glaubt, daß wir zurechtkommen, ohne den Katastrophenplan anzuwenden.« Er machte den Eindruck, eine unmäßig schwere Last auf seinen ohnehin schon beladenen schmalen Schultern zu tragen. »Können Sie mir kurz erzählen, was Sie machen?«
Das tat sie, und Jens überlegte. Monika nahm an, daß er mit dem Gedanken spielte, sie in die Botschaftsgruppe zu übernehmen, aber dann schüttelte er den Kopf.
»Machen Sie, was Sie wollen, machen Sie weiter mit dieser Voruntersuchung, oder lassen Sie sie ruhen und arbeiten mit Hans’ Fällen weiter. Das Problem mit der Voruntersuchung ist, daß Sie keine nennenswerte Hilfe zu erwarten haben, ehe wir das Geiseldrama beendet haben, beziehungsweise ehe die Leute wieder gesund sind.«
Monika antwortete, ihr komme es sinnvoller vor, die Ermittlungen über Gösta Perssons Tod weiterzuführen, unter anderem, weil keiner von Hans’ Fällen brandeilig wirke. Monika sagte nichts über ihren Kontakt zu Allan Larsson, der sollte ihre Trumpfkarte sein, die sie im Notfall ziehen könnte, wenn Jens zum Beispiel sagte, sie müsse warten, bis sich jemand von der Technik an der Untersuchung beteiligen könne; es war eine Trumpfkarte, die sie am liebsten aufbewahrte.
Jens blickte an ihr vorbei, als sei seine Aufmerksamkeit bereits zu wichtigeren Fragen weitergewandert, und er machte Anstalten, das Gespräch zu beenden.
»Halten Sie mich auf dem laufenden«, rief er über seine Schulter, als ob ihm das jetzt erst eingefallen sei.
»Aber sicher«, antwortete Monika, die sich plötzlich ein Lachen nicht verkneifen konnte. Er schloß die Tür. Sie freute sich hemmungslos! Ihr eigener Fall, nur ihrer! Sie würde trotz allem diese Voruntersuchung durchziehen, vom ersten Gespräch an und so weit, wie sie nur gelangen konnte. Sie würde selber, zwar sicher viel zuviel selber, aber immerhin unter eigener Regie, ihren Plan aufstellen und versuchen, das Rätsel des kleinen Mannes zu lösen, der auf dem Obduktionstisch so seltsam zufrieden ausgesehen hatte. Sie würde erfahren, wer er war, wie er gestorben war, und sie würde versuchen herauszufinden, wie es zu dem Todesfall gekommen war und ob noch weitere Personen darin verwickelt waren. Das alles hörte sich eher wie ein Kriminalroman an als wie eine Routineangelegenheit.
Sie war froh, daß sie nicht in die Botschaftsgruppe versetzt worden war. Allem Anschein nach erinnerte deren Arbeit eher an einen amerikanischen Unterhaltungsthriller, ein literarisches Genre, das sie nie angesprochen hatte.
Sie dachte an