Trotzdem ist es gut, dass ich die Dienstreise im Juni nicht antrete. Denn wie sich kurze Zeit später herausstellt, bin ich da bereits schwanger.
Mein Leben, unser Leben geht weiter. Ich habe einen Mann, einen Beruf, demnächst ein Kind. Und eben irgendwo weit hinten in meinen Gedanken ein M und ein S mehr als andere Menschen.
Briefe an Jacob
10. November 1994
Lieber Jacob,
seit drei Tagen wissen wir nun, dass du ein Junge bist. So können wir dich schon mit deinem Namen anreden.
Allerdings wissen wir seitdem auch, dass mit dir nicht alles so ist wie bei anderen Babys. Du hast zu viel Nervenwasser im Kopf; das kann deinem kleinen, empfindlichen Gehirn Schaden zufügen. Woher dieser „Wasserkopf“ kommt, wissen wir noch nicht.
Um das genauer zu untersuchen, haben die Ärzte ein klein wenig Blut aus deiner Nabelschnur geholt. Das ist nicht ganz ungefährlich, aber du hast es wohl gut überstanden. Da hat Jesus schon mal gut auf dich aufgepasst.
An deinem Blut können die Ärzte unter anderem erkennen, ob du eine ganz seltene Krankheit hast, mit der du deine Geburt nur um wenige Stunden überleben würdest. Sie haben uns vorgeschlagen, in diesem Fall eine Ausschabung zu machen, um mir die Anstrengungen einer normalen Geburt zu ersparen. Aber dein Papa und ich waren uns sofort einig: Das werden wir nicht zulassen.
Denn wir haben dein Leben in meinem Bauch nicht selbst gemacht, das hat dir Gott geschenkt. Deshalb, finden wir, haben wir auch kein Recht, über dein Leben zu entscheiden. Wenn du kurz nach deiner Geburt sterben solltest – dann soll auch das alleine Gottes Angelegenheit sein. Wir werden uns jedenfalls nicht daran beteiligen. Das versprechen wir dir hiermit.
Aber wie gesagt, diese eine so schlimme Krankheit ist sehr, sehr selten. Viel häufiger hat ein Wasserkopf ganz andere Gründe. Wir haben also alle drei genug Grund für die Hoffnung, dass du leben und groß werden wirst.
Allerdings war es ein seltsames Gefühl, deine künftigen Kinderzimmermöbel auszusuchen. Denn im schlimmsten Fall wirst du sie niemals benutzen. Wir haben sie trotzdem bestellt. Das mussten wir jetzt schon machen, damit sie rechtzeitig zu deiner Geburt da sind.
Dein schönstes Möbelstück steht schon in unserem Schlafzimmer: Eine Wiege, die dein Opa selbst gezimmert hat. Die Oma hat die Bezüge und die Bettwäsche dazu genäht. Deine andere Oma näht noch an einem Wandteppich, mit dem du später die Geschichte von Noahs Arche nachspielen kannst. Du siehst also, es freuen sich eine ganze Menge Menschen sehr auf dich.
Deine Mama
10. Dezember 1994
Lieber Jacob,
es gibt gute Nachrichten für uns alle: Die eine schlimme Krankheit, nach der die Ärzte gesucht haben, hast du nicht. Du wirst also leben. Das ist doch eigentlich die beste Nachricht, die es geben kann, nicht wahr?
Woher das Zuviel an Nervenwasser in deinem Kopf kommt, haben die Ärzte nicht herausgefunden. Aber das ist nicht ungewöhnlich.
Jetzt wollen sie mich alle drei Tage untersuchen, um zu schauen, wie der Wasserkopf sich entwickelt. Wenn es für dich gefährlich wird, werden sie dich eben früher aus meinem Bauch herausholen. Du bist jetzt schon so weit in deiner Entwicklung, dass das kein größeres Problem mehr wäre. Trotzdem wäre es besser, wenn du möglichst lange in meinem Bauch bleiben kannst.
Die Ärzte werden aber nicht darauf warten, dass du von selbst zur Welt kommst. Bei einer normalen Geburt könnte der Druck in deinem Köpfchen noch höher werden und deinem Gehirn Schaden zufügen. Das wollen wir alle auf jeden Fall vermeiden. Deshalb werden die Ärzte dich ein paar Tage vor dem Geburtstermin aus meinem Bauch herausholen. So etwas nennt man einen „Kaiserschnitt“. Du kommst also als Prinz auf die Welt!
Sobald du ein paar Wochen alt bist, werden die Ärzte ein Ventil in deinen Kopf einsetzen. So kann das überschüssige Nervenwasser aus deinem Kopf abfließen, und du kannst dich dann vielleicht ganz normal entwickeln.
Das wäre natürlich wunderbar. Es beten auch ganz viele Leute dafür, dass alles gut wird. Aber auch wenn du nicht ganz so fit sein solltest wie andere Babys, kannst du dich auf zwei Dinge verlassen: Du bist unser Kind, und die Frage, ob du einmal studieren oder in einer Werkstatt für Behinderte arbeiten wirst, kann nichts an unserer Liebe zu dir ändern. Und an Gottes Liebe erst recht nicht.
Deine Mama
28. Dezember 1994
Lieber Jacob,
Gott sorgt schon richtig gut vor für dich! Und für uns auch.
Heute sollten wir im Krankenhaus in den Kreißsaal gehen, um messen zu lassen, ob ich schon Wehen habe. Der Papa hat geklingelt, eine Hebamme kam heraus – und zog deinen Papa erst einmal ganz fest an ihre Brust. Ich wollte mich gerade schon wundern, da sagte die Hebamme: „Hallo, Martin“, und Papa antwortete: „Hallo, Jutta“.
Die beiden kennen sich noch aus der Gemeinde, in die Papa als Jugendlicher gegangen ist.
Außer ihr arbeiten noch drei weitere Frauen, die Papa von dort kennt, auf der Kinderstation. Die werden sicher doppelt gut auf dich aufpassen. Jutta wird auch unsere Hebamme für zu Hause werden und nach uns schauen, wenn wir nach deiner Geburt wieder zu Hause sind.
Es ist schon ein gutes Gefühl, zu wissen, dass da nicht irgendjemand kommt, sondern eine Freundin.
Siehst du, Gott regelt vieles ganz wunderbar.
Von Wehen ist bei mir übrigens noch nichts zu merken. Deshalb wollen die Ärzte bis zum 10. Januar mit dem Kaiserschnitt warten. Wir warten auch schon ganz gespannt auf dich. Noch zwei Wochen hat Gott Zeit, um ein Wunder zu tun und den Wasserkopf einfach so verschwinden zu lassen …
Deine Mama
12. Januar 1995
Lieber Jacob,
Nun bist du also schon zwei Tage alt. Ich wollte dir ja sofort nach dem Aufwachen aus der Narkose schreiben – aber ich hatte absolut keine Ahnung, was so ein Kaiserschnitt bedeutet! Einen ganzen Tag lang habe ich im Aufwachraum vor mich hingedämmert und nur eines richtig wahrgenommen: Mein Bauch tut weh. Besonders, wenn ich husten muss oder sprechen möchte oder versuche, wenigstens die Beine etwas zu bewegen.
Gestern früh kam dann eine Schwester und sagte, ich solle einmal kurz aufstehen. Wie bitte? Die konnte nicht mich meinen, die hatte mich bestimmt mit der Frau im Nebenbett verwechselt. Aber sie hat darauf bestanden, dass ich jetzt aufstehen muss. Resolut hat sie mich auf die Seite gedreht – mein Bauch tat so weh! – meinen Oberkörper zum Sitzen hochgezogen und meine Füße auf den Boden gesetzt – mein Bauch tat so weh! – und mich vorsichtig auf die Beine gestellt – mein Bauch tat so weh!
Zum Glück durfte ich mich gleich wieder hinlegen – mein Bauch tat immer noch so weh! – und wurde auf die Wochenstation geschoben. Übrigens, mein Bauch tut auch hier noch weh.
Zum Glück ist wenigstens dein Papa in der Lage, sich um dich zu kümmern. Er hat dich direkt nach deiner Geburt auf den Arm genommen, dich gewaschen, gewickelt und angezogen. Er pendelt jetzt im Krankenhaus immer zwischen meinem und deinem Bett hin und her und erzählt mir, wie es dir geht. Wenn du schläfst, nimmt er eines seiner Bücher und lernt für sein Examen. Schließlich will er ja später einmal nicht nur die Brötchen für dich verdienen, sondern auch die Butter und den Käse drauf!
Weißt du eigentlich schon, dass du der Sohn eines echten Helden bist?
Heute hat dein Papa etwas geschafft, das eigentlich