Und so schweigen wir uns in der folgenden halben Stunde sehr beredt an.
So lange, bis ich mich in einer engen Kurve am Türgriff festhalte. Für mich eine instinktive Reaktion, für Martin ein Zeichen von vollkommen unnötiger Angst. Das Auto wird schon nicht aus der Kurve fliegen! Ob ich immer noch nicht weiß, dass er fahren kann?
Natürlich weiß ich, dass Martin völlig sicher Auto fährt! Aber gerade eben war da diese Kurve …
Und prompt geht die ganze Diskussion, nur mit leicht abgewandeltem Thema, von vorne los.
So haben wir auf längeren Fahrten immer wieder gestritten und uns letztendlich schmollend angeschwiegen. So lange, bis Martin den entscheidenden Satz gesagt hat, der uns auf den tiefen Grund unserer regelmäßigen Verstimmungen geführt hat: „Du benimmst dich wie meine Mutter!“
Doch, ich schätze meine Schwiegermutter durchaus. Nur ist sie eben eine reichlich besorgte Beifahrerin. Und ihr mütterlicher Beschützerinstinkt ist besonders stark ausgeprägt. Wie schon gesagt, bei einem Kleinkind ist letzterer wichtig und notwendig. Aber auf einen achtzehnjährigen Fahranfänger trug die Kombination aus mütterlicher Angst und Sorge nicht gerade zu einer Steigerung seines Autofahrer-Selbstbewusstseins bei.
Und nun sitzt neben dem Fahranfänger von einst die ersehnte junge Dame. Aber die denkt gar nicht daran, sich in Bond-Girl-Manier völlig cool darauf zu verlassen, dass er alle Eventualitäten des Straßenverkehrs mit links meistern wird. Stattdessen denkt die Blondine auf dem Beifahrersitz mit drei oder vier Autos vor sich mit. Und reagiert auf deren Fahrweise schneller, als ihr Liebster am Steuer das tut. So greift sie eben manchmal nach dem Türgriff, zuckt instinktiv zusammen oder tritt auf eine nicht vorhandene Bremse. Für sie ist das überhaupt keine Kritik an seinem Fahrstil. Aber bei ihm kommt es so an. Weil ich mit meinem Zucken die gleiche Kerbe in den Gefühlen meines Liebsten treffe wie vor Jahren seine Mutter.
Als Martin und ich endlich auf die Gründe für unsere ungewöhnlich häufigen und heftigen Diskussionen beim Autofahren gestoßen sind, haben wir uns erst einmal betreten angeschaut. Denn was konnten wir schon tun, um derartige Szenen künftig zu vermeiden? Das Mitdenken und Mit-Reagieren als Beifahrerin war mir doch schon längst in Fleisch und Blut übergegangen! Das würde ich so einfach nicht ändern können, auch wenn ich jetzt um Martins Empfindlichkeit an diesem Punkt wusste. Und wie sollte Martin die tiefe Kerbe in seinem Inneren ignorieren, die von jeder ängstlichen Reaktion meinerseits noch ein wenig tiefer eingeschlagen wurde?
Es wurde tatsächlich eine lange Übungsphase für uns beide. Ein ums andere Mal musste ich mich bemühen, ruhig darauf zu vertrauen, dass Martin bremsbereit war, auch wenn ich davon nichts sehen konnte. Musste ich mich daran erinnern, dass er bisher immer noch rechtzeitig reagiert hat. Martin musste sich seinerseits ein ums andere Mal sagen, dass mein Tritt auf die imaginäre Bremse ihn weder als Autofahrer noch als Mensch herabwürdigte. Dass ich zwar in kritischen Situationen kurz zusammenzuckte, aber nicht in Panik verfallen würde.
Ganz abgeschlossen ist diese Übungsphase bis heute nicht. Wir müssen uns immer wieder gegenseitig an diese Wahrheiten erinnern. Aber immer seltener. Jedenfalls bekommt das Bodenblech vor dem Beifahrersitz wesentlich weniger Tritte ab. Und wenn ich in einer kritischen Situation hörbar die Luft anhalte, fragt Martin ohne vorwurfsvollen Unterton, ob ich mich unsicher fühle. Um dann notfalls das Tempo zu drosseln oder die zweite Hand ans Lenkrad zu nehmen.
James Bond und sein Mädchen auf dem Beifahrersitz besiegen auf ihren halsbrecherischen Autofahrten stets irgendwelche finsteren Bösewichte. Martin ist kein James Bond, und ich tauge nicht zu dessen Gespielin. Wir haben auch noch nie einen Gangsterboss aus dem Weg geräumt. Sondern nur einen Anlass zu unnötigem Streit. Aber das immerhin nicht nur im Film, sondern im ganz realen Leben. Also da, wo es wirklich von Bedeutung ist.
Diagnose
Oktober 1993
„Mami, Mami, was wäre dir lieber: Ein Loch in meinem Kopf oder ein Loch in meiner Hose?“
„Ein Loch in der Hose natürlich!“
„Na dann ist ja alles gut. Ich bin nämlich grade vom Baum gefallen und hab mir meine neue Hose zerrissen.“
Der Witz ist weder besonders neu noch sonderlich originell.
Aber manchmal ist er gar nicht so weit entfernt von der Realität.
Beispielsweise in den letzten Tagen für mich.
Ein neuer Abschnitt unseres Ehelebens steht an: Wir stecken mitten im Umzug nach Duisburg für Martins Vikariat. Ausgerechnet da meldet sich mein Körper zu Wort. Angefangen hat das Ganze vor einigen Wochen mit einem pelzigen, tauben Gefühl auf dem rechten Oberschenkel. Als die Stelle sich immer mehr wie dauerhaft eingeschlafene Füße anfühlte, bin ich doch zum Arzt gegangen. Der schickte mich gleich weiter zum Neurologen. Dieser wiederum zeichnete zielsicher mit dem Finger einen Bogen genau um die fragliche Stelle und wusste Bescheid: Da hatte sich ein Hautnerv eingeklemmt. Nicht weiter schlimm, der „entklemmt“ sich auch wieder. Der Neurologe behielt Recht, bald fühlte sich alles wieder ganz normal an. Als sich die Geschichte am linken Bein wiederholte, wusste ich ja schon Bescheid: Das „entklemmt“ sich wieder. Dem war auch so. Erst, als das taube Gefühl den rechten Unterschenkel im Griff hatte, wollte sich das „Entklemmen“ nicht mehr so schnell einstellen. Der Nerv verklemmte sich spürbar so weit, dass ich Probleme beim Laufen bekam. Also noch einmal zum Neurologen. Der zieht die Stirn kurz in Falten, dann greift er zum Telefon und fragt in einer Röntgenpraxis nach einem „MRT“-Termin für mich.
„Übermorgen Abend um halb zehn?“
„Geht nicht, da haben wir einen Termin in der Gemeinde, der ist dann bestimmt noch nicht zu Ende.“
Dem Arzt klappt die Kinnlade herunter. Allein die Uhrzeit, und spätestens der Gesichtsausdruck des Neurologen hätten mich stutzig machen müssen. Aber ich hatte bis dato ja keine Ahnung, was sich hinter den drei Buchstaben „MRT“ verbirgt, und dass es in ganz Wuppertal ein einziges ambulantes dieser High-Tech-Geräte gab.
„Andere Patienten warten monatelang auf einen Termin. Also, wollen Sie oder wollen Sie nicht?“
Doch, doch, natürlich will ich.
Und so schiebt mich eine Röntgenschwester zwei Tage später in eine enge Röhre. Es knackst und knattert von allen Seiten, ich halte brav meinen Kopf still und habe nach wie vor keine Ahnung, was die Ärzte da eigentlich suchen. Von dieser Ahnungslosigkeit hat wiederum der Radiologe keine Ahnung. Routinemäßig drückt er mir einen riesigen grünen Umschlag mit den Aufnahmen für den Neurologen in die Hand, schreibt einen kurzen Begleitbrief und teilt mir lapidar mit: „Für eine eindeutige Diagnose muss man das natürlich noch klinisch abklären. Aber für mich sieht es eindeutig nach Multipler Sklerose aus.“
Multiple Sklerose auf lateinisch, abgekürzt MS, auf deutsch Muskelschwund.
Über zwei Ecken weiß ich von einer jungen Frau, die seit ihrer Kindheit an Muskelschwund leidet. Sie sitzt inzwischen im Rollstuhl und wird ihren vierzigsten Geburtstag aller Voraussicht nach nicht mehr erleben. Habe ich eine andere Variante der Krankheit? Im Sommer noch bin ich auf der Jugendfreizeit in den französischen Alpen durch Wildbäche geklettert, immer in der Gruppe der Vordersten und Abenteuerlustigsten. Läuft die Krankheit bei mir also wesentlich langsamer ab? Oder ab jetzt besonders schnell? Im Grunde genommen ist das egal. Nach allem, was ich über Muskelschwund weiß, verliert irgendwann auch der Herzmuskel seine Kraft. Diese Krankheit ist tödlich. Immer.
Ein absolutes Ohnmachtsgefühl, wie es nach einer solchen Diagnose eigentlich normal wäre, will sich trotzdem nicht einstellen. Martin sitzt am folgenden Morgen wie erschlagen an meinem Bett. Da legt ihm jemand die Hand auf die Schulter und sagt leise: „Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut.“ Außer seiner schlafenden Ehefrau und ihm selbst ist niemand in der Wohnung. Und trotzdem ist noch jemand da. Jemand, dessen Anwesenheit keine Überwachungskamera und kein Tonbandgerät registriert hätten. Jemand, der mit zwei Sätzen schwere Gedanken schneller und dauerhafter