Bei mir ist es eher eine Art Trotzreaktion, aus der heraus ich meinen Kolleginnen am Telefon verkünde: „Mag sein, ich überlebe euch alle.“
Es muss ja nur die U-Bahn entgleisen, in der sie zufällig sitzen.
Sie könnten auch bei Grün die Straße überqueren, während ein betrunkener Autofahrer seine rote Ampel übersieht.
Oder sie könnten sich Meningokokken einfangen.
Oder, oder, oder.
Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen: Wir haben unser Leben nicht in der Hand. Irgendwie und irgendwann sterben wir alle.
Diese Erkenntnis ist weder besonders neu noch sonderlich originell.
Aber nie ist sie mir so nahe wie in diesen Tagen. Und wirkt dabei nicht einmal besonders brutal, sondern eher tröstlich: Ich bin nicht die einzige, die irgendwann sterben wird. Das wird allen anderen auch passieren.
Mag sein, dass diese Trotzreaktion in meinem Kopf mich erst einmal schützt vor allen weiteren grausigen Überlegungen, die Martin und ich jetzt eigentlich anstellen müssten. Ganz bestimmt wären diese bald unausweichlich geworden. Doch bevor es so weit kommt, schickt mir meine Mutter ein medizinisches Fachbuch über Multiple Sklerose. Interessiert lese ich, dass bei dieser Krankheit das eigene Immunsystem die Nervenbahnen angreift, dass diese Schübe mit Cortison gestoppt werden können. Dass die Krankheit bislang unheilbar ist, aber nicht unbedingt im Rollstuhl enden muss. Von Muskelschwäche, von Herzversagen, von tödlichem Ausgang lese ich nichts.
Und ganz allmählich dämmert es mir: „MS“ ist die Abkürzung für „Multiple Sklerose“. „Muskelschwund“ dagegen ist eine völlig andere Krankheit. Eine Krankheit, die ich nicht habe. Ich kann durchaus vierzig Jahre alt werden, vielleicht auch achtzig. Ich kann sogar Kinder bekommen.
Ich habe keinen Muskelschwund, sondern nur Multiple Sklerose.
Ich habe kein Loch im Kopf, sondern nur ein Loch in der Hose.
Der Witz ist wirklich nicht besonders originell. Aber plötzlich sehr real. Und er hat eine beglückende Pointe.
Weiterleben
Oktober 1993
Zur endgültigen Absicherung der Diagnose muss ich ins Krankenhaus. Während Martin den Umzug nach Duisburg alleine meistert, fahre ich im Rollstuhl zu verschiedenen weiteren Untersuchungen. Deren Ergebnis überrascht eigentlich niemanden mehr: Ja, ich habe wirklich Multiple Sklerose.
Was kann man dagegen machen? Bei akuten Schüben Cortisontabletten nehmen, Krankengymnastik, und sich generell nicht überlasten. Mehr Möglichkeiten, die bislang unheilbare Krankheit abzuschwächen, gibt es nicht.
Oder doch?
Von allen Seiten stürzen in den folgenden Wochen Ratschläge auf mich ein: Meine Schwiegermutter schickt einen Zeitungsartikel, der Fischölkapseln empfiehlt. Eine Nachbarin meiner Schwiegermutter leiht mir ein Buch, das die erstaunlichen Erfolge eines Verzichts auf tierische Produkte und alles Gekochte schildert. Eine Freundin der Nachbarin meiner Schwiegermutter lässt mir eine Broschüre überbringen, in der mehrere MS-Patienten eine deutliche Besserung dank einer Stimulierung der Selbstheilungskräfte durch Yogaübungen und positives Denken schildern. Der Schwager der Freundin der Nachbarin der Schwiegermutter lässt mir ausrichten, dass ich ab jetzt Weißmehl und Industriezucker meiden soll. Zum Glück verzichtet wenigstens der Tankwart des Schwagers der Freundin der Nachbarin der Schwiegermutter darauf, mir ein weiteres Erfolgsrezept vorzuschlagen.
Schließlich weiß ich inzwischen, dass es bei MS völlig unterschiedliche Krankheitsverläufe gibt, vom Rest des Lebens im Rollstuhl bis zu einem dauerhaft fast unbeschwerten Leben. Deshalb kann man niemals eine konkrete Prognose für eine bestimmte Person abgeben. Was wiederum heißt, dass niemand sagen kann, ob bei einem der Patienten aus den Diät-Broschüren die geschilderten Besserungen auch ohne diese radikalen Essenseinschränkungen eingetreten wären. Auf alle MS-Patienten anwendbar wären diese Erfolgsrezepte nur, wenn von tausend MS-Kranken über 900 die gleichen Erfahrungen gemacht hätten. Wenn das der Fall wäre, dann wüsste auch mein Neurologe davon. Beglückt stelle ich fest, dass ich also alle diese Wunderdiäten getrost vergessen kann. Ich muss nicht auf meine geliebte Schokolade verzichten, ich darf mir weiterhin ab und zu ein Spiegelei braten. Den letzten Rest eines schlechten Gewissens meiner Gesundheit gegenüber vertreibt der Grundsatz, den ich in dem Buch von meiner Mutter finde: „Meiden Sie Stress – und bedenken Sie, dass auch allzu rigide Essens-Vorschriften Stress bedeuten.“ Ich kann ja trotzdem das tun, was der Neurologe mir rät: Überlastung vermeiden, mehrfach ungesättigte Fettsäuren bevorzugen, gelegentlich Fischölkapseln schlucken.
Als ich das Krankenhaus verlassen und in unsere neue Wohnung einziehen kann, hat das Cortison bereits Wirkung gezeigt: Als Gehhilfe für längere Strecken brauche ich nur noch den Krückstock von Martins Großmutter, das Taubheitsgefühl beschränkt sich auf die Füße. Wenige Wochen später kann ich den Stock weglassen. Nur meine Füße fühlen sich dauerhaft an wie „eingeschlafen“. Außerdem braucht ein Nervenimpuls vom Fuß ein paar Millisekunden länger als üblich, bis er ins Gehirn gelangt; dessen Rückmeldung „Fuß anheben“ verliert unterwegs wieder einige Millisekunden Zeit. Zusammen sorgen diese kaum messbaren Verzögerungen dafür, dass ich schneller als andere Menschen stolpere. Zum Glück läuft die Nachrichtenübertragung in meinen Nerven noch schnell genug, um den Stolperer aufzufangen, bevor er zum Hinfaller wird.
Das Einzige, worauf ich künftig wohl verzichten muss, sind offene Schuhe. Für die Hochzeit von Freunden habe ich, passend zum Kleid, Slipper angezogen. Und habe plötzlich das Gefühl, auf ungleich langen Beinen zu laufen. Verwundert sehe ich nach unten – und stelle fest, dass mein Gefühl mich an diesem Punkt nicht getrogen hat. Das rechte Bein ist tatsächlich kürzer: Denn am untersten Ende fehlt der Schuh. Der steht einsam und verlassen zehn Meter hinter mir. Dass ich ihn einfach verloren habe, haben meine lädierten Nerven mir nicht mitgeteilt. Aber was soll’s, ich trage ohnehin lieber fest sitzende Schuhe. Und für festliche Anlässe finde ich schnell ein Paar schicke Schnürstiefelchen. Mit diesen kleinen Ausfällen kann man durchaus gut leben.
Und ich beschließe, wirklich gut zu leben.
Sprich: Auf meine Krankheit Rücksicht nehmen, wo es unabdingbar ist, aber mein Leben nicht von ihr bestimmen lassen. Mein erster Gedanke morgens und mein letzter vor dem Einschlafen sollen ganz gewiss nicht der Frage gelten, ob sich das Taubheitsgefühl in den Füßen verstärkt hat oder nicht. Ich will weiterhin „Sabine Zinkernagel“ sein, später auch „die Pfarrfrau“ oder „die Mama von xy“. Meine Umwelt soll mich als ehrliche Christin, als Ehefrau und Mutter und vieles mehr wahrnehmen, und nur höchstens irgendwann am Rande als „MS-Kranke“.
Als eine Bekannte fragt: „Ich habe gehört, du leidest an MS! Stimmt das wirklich?“, antworte ich wahrheitsgemäß mit „Nein“.
Und setze hinzu: „Ich leide nicht an MS. Ich habe sie nur.“
Meine Bekannte starrt mich erst verständnislos, dann entsetzt an. Wenn ich MS habe, müsse ich doch daran leiden, das dürfe ich doch nicht so einfach auf die leichte Schulter nehmen … Mein Neurologe sieht das zum Glück anders. Er erklärt mir sogar, dass Patienten mit meiner Einstellung größere Chancen auf einen milden Verlauf der Krankheit haben. Einfach deshalb, weil sie sich nicht selbst verrückt machen.
Zwei Zugeständnisse mache ich der MS aber doch: Ich reduziere meine Arbeitszeit auf eine Dreiviertel-Stelle und sage eine geplante Dienstreise nach Äthiopien ab. Die für Februar geplante Urlaubsreise nach Rom treten Martin und ich aber an. Sie wird zum Beweis dafür, dass ich immer noch die alte Sabine bin. Sechs Tage lang durchstreifen wir die Überbleibsel der antiken Weltstadt, steigen hinauf auf den Palatin und hinunter in die Katakomben. Nur zum Mittagessen legen wir eine kurze Pause ein; ansonsten gibt es viel zu viel Faszinierendes zu entdecken. Irgendwann stehen wir unten an der Spanischen Treppe. Ich inspiziere sie mit einem skeptischen Blick. Hoch ist sie, und steil. Viel zu steil gebaut für eine bequem begehbare Treppe. Kann ich mir das wirklich zutrauen? Ich will