Wer vermag allein für sich all deine preiswürdigen Taten aufzuzählen, die er allein erfahren hat? Was hast du doch damals getan, und wie unerforschlich ist die Tiefe deiner Gerichte? Lange lag jener nämlich ohne Bewußtsein im Fieber, im Todeskampf. Da man an seinem Aufkommen verzweifelte, wurde er getauft, ohne daß er es wußte und ich mich darum bekümmerte; war ich doch der Meinung, die von mir empfangenen Lehren müßten sein Leben eher zurückhalten als das, was ohne sein Wissen an seinem Körper geschah. Aber es kam ganz anders. Denn er erholte sich und wurde gesund. Sobald ich aber mit ihm sprechen konnte - ich konnte es bald, wie er es konnte, da ich nicht von seiner Seite wich und wir sehr aneinander hingen -, begann ich, in der Meinung, er würde mitlachen, vor ihm über die Taufe zu spotten, die er, des Bewußtseins und der Sinne völlig beraubt, empfangen hatte, von deren Empfang er aber unterrichtet war. Er aber entsetzte sich vor mir wie vor einem Feinde und ermahnte mich mit wunderbarem, unerwartetem Freimute, solche Worte zu unterlassen, wenn ich sein Freund sein wolle. Ganz betroffen und verwirrt, hielt ich meine Empfindungen zurück, auf daß er eher gesunde und eher durch die Rückkehr seiner Kräfte für die Verhandlungen, die ich mit ihm führen wollte, fähig werde. Allein er wurde meinem Wahnsinn entrissen, um zu meinem Troste bei dir aufgehoben zu werden wenige Tage später erlag er in meiner Abwesenheit einem erneuten Fieberanfalle.
Von gewaltigem Leide wurde mein Herz verfinstert, und was ich erblickte, war Tod. Die Heimat wurde mir zur Marter, das Vaterland zu unsagbarer Pein; was ich mit ihm genossen hatte, verwandelte sich ohne ihn in unendliche Qual. Überall suchten ihn meine Augen, fanden ihn aber nicht. Alles war mir verhaßt, weil nichts mehr ihn mir zurückgeben, nichts mehr zu mir sagen konnte „Siehe, er kommt wieder“, wie früher, wenn er abwesend war. So war ich mir zu einem großen Rätsel geworden und fragte meine Seele, warum sie”traurig sei und mich so sehr betrübe“82 , aber sie wußte keine Antwort für mich. Und fuhr ich fort „Hoffe auf Gott“83, so gehorchte sie nicht, und das mit vollem Rechte, weil der mir so teure Mensch, den ich verloren hatte, wahrer und besser war als das Trugbild, auf das sie mich hoffen ließ84. Nur die Träne war mir süß; sie war mir an Stelle meines Freunde zur Wonne meines Herzens geworden.
5. Trost der Tränen.
Und nun, o Herr, ist auch das vorüber, und die Zeit hat meine Wunde verharschen lassen. Kann ich von dir, der du die Wahrheit bist, vernehmen, darf ich meines Herzens Ohr deinem Munde zuneigen, auf daß du mir kündest, warum Tränen den Unglücklichen so süß sind? Oder hältst du trotz deiner Allgegenwart unser Elend weit von dir fern und bleibst in dir, während wir aus bitteren Erfahrungen nicht herauskommen? Und doch, könnten wir nicht vor deinen Ohren unsere Klagen vorbringen, so würde von unserer Hoffnung nichts übrig bleiben. Wie kommt es also, daß Seufzen und Weinen, Stöhnen und Klagen wie eine süße Frucht von den Bitterkeiten dieses Lebens gepflückt wird? Oder liegt die Süßigkeit in der Hoffnung, von dir erhört zu werden? Das ist der Fall beim Gebete, weil sich in ihm Sehnsucht nach Erlösung kundgibt. Aber war dies auch der Fall bei dem tiefen Schmerze über den verlorenen Freund, der mich damals überwältigte? Denn ich konnte doch nicht hoffen, ihn wieder lebendig zu sehen; ich erflehte dies auch nicht in meinen Tränen, sondern klagte und weinte nur. Denn elend war ich, und meine Wonne war mir genommen. Oder ist das Weinen an sich gleichfalls bitter und wird nur süß, wenn wir es mit dem Widerwillen gegen Dinge vergleichen, die uns früher Genuß gewährten, nunmehr aber zuwider sind?
6. Sein Schmerz über des Freundes Tod.
Doch wozu sage ich das alles? Jetzt ist nicht die Zeit zu fragen, sondern dir zu bekennen. Ich war elend, und elend ist jegliche Seele, die von der Liebe zu irdischen Dingen gefesselt, durch ihren Verlust zerrissen wird und dann erst das Elend fühlt, in dem es doch schon vor dem Verluste schmachtete. So war damals mein Zustand, ich weinte bitterlich und suchte in Bitterkeit Ruhe. Trotz meines Unglückes aber war mir mein damaliges elendes Leben doch lieber als mein Freund. Denn wenn ich auch es anders gewünscht hätte, so hätte ich es doch nicht -lieber als den Freund verloren. Ja vielleicht hätte ich es nicht einmal für ihn hingeben wollen, so wie es von Orestes und Pylades erzählt wird (wenn anders die Geschichte wahr ist), die für einander oder gleichzeitig sterben wollten, da ihnen voneinander getrennt zu leben herber als der Tod dünkte. Aber in mir herrschten merkwürdige, ganz entgegengesetzte Stimmungen: ärgster Überdruß am Leben, stärkste Furcht vor dem Tode. Ich glaube, je mehr ich meinen Freund liebte, desto mehr haßte und fürchtete ich den Tod, welcher mir ihn geraubt hatte, als meinen grimmigsten Feind und meinte, er würde nun mit einem Male alle Menschen wegraffen, weil er das an ihm vermocht. So war - ich erinnere mich dessen - ganz und gar meine Stimmung. Siehe mein Herz, o mein Gott, schaue in sein Inneres; deshalb richte, meine Hoffnung, die du mich reinigst von so unreinen Neigungen, deine Augen auf mich und löse „meine Füße aus der Schlinge“85. Ich wunderte mich, daß die übrigen Menschen noch lebten, da der gestorben war, den ich geliebt hatte, als ob er nie sterben würde; mehr noch wunderte ich mich, daß ich nach dem Tode desjenigen leben konnte, dessen anderes Ich ich war. Treffend hat jemand seinen Freund „die Hälfte seiner Seele“86 genannt. Denn ich hatte die Empfindung, daß meine und seine Seele nur eine in zwei Körpern gewesen seien, und deshalb war mir das Leben zum Greuel, weil ich es nicht halb leben wollte, und wiederum fürchtete ich mich zu sterben, damit nicht jener ganz sterbe, den ich so sehr geliebt hatte87.
7. Der Schmerz bringt ihn um alle Ruhe und treibt ihn gar von Tagaste nach Karthago.
O über den Unverstand, der die Menschen nicht menschlich nur zu lieben versteht! O über den Toren, der das Menschliche nicht mit Maß zu ertragen versteht! So aber war ich damals. Daher war ich immer in Aufruhr, ich seufzte, weinte und fand in meiner Unruhe weder Rast noch Rat. Denn ich trug ein zerrissenes und blutendes Herz in mir, dem es verhaßt war, von mir getragen zu werden, für das ich aber keinen Ruheplatz wußte. Nicht in lieblichen Hainen, nicht in Spielen und Gesängen, nicht in angenehm duftenden Grotten, nicht bei auserlesenen Gastmählern noch beim Liebesgenuß, nicht einmal im Studium und in der Beschäftigung mit der Literatur wollte es sich beruhigen. Alles flößte mir Schauer ein, selbst die Nacht, und alles, was nicht er war, ausgenommen Klagen und Tränen, erregte mein Mißfallen und meinen Haß in diesen allein fand ich einige Ruhe. Sobald aber mein Herz davon frei wurde, lastete wieder auf mir die schwere Bürde des Elends. Bei dir, o Herr, hätte ich Erleichterung und Heilung suchen sollen, ich wußte es, aber ich wollte es nicht und vermochte es auch nicht, weil du mir nach meinen damaligen Begriffen nichts Zuverlässiges und Bestimmtes warst. Nicht du warst es ja sondern ein leeres Trugbild und mein Irrtum war mein Gott. Und so oft ich es versuchte, ihm dort einen Ruheplatz zu bereiten, versank es ins Leere und stürzte wieder über mich selbst, und ich blieb allein übrig als der unselige Ort, wo ich nicht sein, von wo ich nicht weggehen konnte. Wohin hätte denn mein Herz vor meinem Herzen fliehen sollen? Wohin ich vor mir selbst? Wohin wäre ich mir nicht gefolgt? Und dennoch floh ich aus der Vaterstadt. Denn weniger vermißten meine Augen ihn dort, wo sie ihn zu sehen nicht gewohnt waren, und so verließ ich Tagaste und kam nach Karthago.
8. Zeit und Freundestrost heilen seinen Schmerz.
Die Zeiten feiern nicht und gehen nicht untätig an unsern Sinnen vorüber, wunderbar sind ihre Wirkungen in unserem Gemüte. Siehe, sie kamen und gingen Tag um Tag, und kommend und vorübergehend führten sie mir andere Hoffnungen und andere Erinnerungen zu; den früheren Vergnügungen, denen ich mich allmählich wieder ergab, mußte mein Schmerz weichen, und so wurde ich wieder hergestellt. Aber in ihrem Gefolge waren, wenn nicht gerade neue Schmerzen, jedoch die Ursachen zu neuen Schmerzen. Denn weshalb anders hatte mich jener Schmerz so leicht und so bis ins Innerste erschüttert, als weil ich mein Herz an den Staub gehängt hatte, indem ich einen Sterblichen liebte, als würde er niemals sterben? Am meisten aber kräftigte und richtete mich auf der Trost, den ich in der