Hasard verharrte vor dem Schott und wartete darauf, daß Dina die Übersetzung beendete. Ihr Blick wirkte bedauernd. Offenbar war sie mit Alokeranjans Verhalten ebenfalls nicht einverstanden.
„Senhor Capitán“, fügte sie hinzu, „bitte versuchen Sie, Verständnis aufzubringen. Wir befinden uns in einer wenig glücklichen Lage. Die Entweihung von Buddhas Weisheitszahn ist einer der größten Frevel, die sich Alokeranjan vorstellen kann.“
„Ich denke, wir alle werden die Überfahrt nach Mannar irgendwie überstehen“, sagte der Seewolf. „Der eine besser, der andere eben schlechter.“ Er bedachte den schmächtigen Singhalesen mit einem bedauernden Blick. „Außerdem ist morgen um die Mittagszeit alles vorbei, falls der Wind nicht abflaut.“
„Das Heiligtum!“ rief Alokeranjan. „Der Capitán soll die Reliquie verwahren, bis wir Mannar vor uns sehen.“
Der Weisheitszahn Buddhas lag inzwischen in einem schmucken Elfenbeinkästchen. Als es Dina dem Seewolf aushändigte, zögerte sie kaum merklich.
„Wo wollen Sie den Schatz aufbewahren?“ fragte sie. „Ein zweiter Diebstahl wäre eine Katastrophe für alle Gläubigen gleichzusetzen.“
„Seien Sie unbesorgt“, sagte Hasard. „In meiner Kammer ist der Zahn sicher. Außerdem kann niemand unbemerkt an Bord gelangen.“
„Wie viele Schiffe folgen uns?“
„Einige Dutzend.“
„Ich dachte es mir. Viele Singhalesen wollen dabei sein, wenn der Weisheitszahn von den ‚heiligen Männern‘ zurückgebracht wird. Aber vielleicht sind auch einige Strauchdiebe darunter, die es nur auf den unschätzbaren Wert der Reliquie abgesehen haben.“
Im Laufe des Nachmittags drehte der Wind wieder auf südliche bis östliche Richtungen und zwang die Arwenacks zum Kreuzen. Der Golf von Mannar zeigte sich jedoch weiterhin von seiner angenehmsten Seite mit mäßigem Seegang.
Das Land an Backbord war immer noch niedrig, sandig und teils mit Palmen bestanden. Selbst durch die Spektive ließen sich keine Besonderheiten erkennen.
Dem Land vorgelagert war eine breite Küstenbank. Zahllose Untiefen und kleine und kleinste Inseln ließen das Gewässer schwierig werden. Aber die Schebecke geriet nie so dicht unter Land, daß eine Gefahr bestanden hätte.
Die Karten aus England, so genau sie auch waren, zeigten doch nicht den Detailreichtum der Küste. Dan O’Flynn nutzte die Gelegenheit und das strahlende Sonnenwetter, die Karte zu vervollständigen. Insbesondere der Inselkette, die sich scheinbar endlos hinzog, galt sein Hauptaugenmerk.
Er bedauerte vor allem, daß die Schebecke die Pamban-Passage während der Nacht und in sicherer Distanz passieren würde. Im vorliegenden Kartenmaterial war die Passage auf 9° 17’ Nord und 79° 12’ Ost besonders gekennzeichnet und mit einem erläuternden Text versehen. Demnach handelte es sich um einen etwa sechzig Yards breiten Durchbruch in einem schmalen Felsrücken. Er trennte das indische Festland von der Pamban-Insel. Zugleich stellte er die einzige schiffbare Verbindung zwischen Ceylon und Indien dar. Die Alternative dazu war eine Rundung von ganz Ceylon.
Der Pamban-Passage vorgelagert waren Riffe mit starker Brandung und nur geringer Wassertiefe. Offenbar reichten sie von der Küste aus etliche Meilen nach Süden.
Unmittelbar an Pamban Island anschließend, erstreckte sich eine sechzehn Seemeilen lange Sand- und Felsbank bis nach Mannar Island. Der Kartograph hatte die gut zwei Meilen breite Bank Adam’s Bridge getauft. Die Strände schienen veränderlich und selbst für Boote nicht passierbar zu sein. Dan O’Flynn besaß genügend Erfahrung, um richtig anzunehmen, daß bei kräftigen Winden starke Strömungen über die Sandbank hinwegsetzten.
Einige der die Schebecke verfolgenden Boote waren inzwischen weit zurückgefallen. Aber die Mehrzahl segelte immer noch dichtauf im Kielwasser. Auf dem Kreuzkurs waren sie dem Dreimaster überlegen, da sie höher an den Wind gehen konnten.
Nur gelegentlich erschien der eine oder andere der Passagiere an Deck, als wollten sie sich überzeugen, daß Mannar Island tatsächlich noch nicht an der Kimm zu sehen war. Mit den Arwenacks redete kaum einer. Überhaupt erweckten sie den Eindruck, als seien für sie die Engländer nichts weiter als ein notwendiges Übel.
Daran, daß keiner die Sprache des anderen beherrschte, konnte es kaum liegen, denn Dina begleitete jeden ihrer Landsleute. Sie war überhaupt die einzige, die sich ständig umsah und gelegentlich Fragen über das Schiff oder die Mannschaft stellte. Und wer hätte einer Schönheit wie ihr schon die kalte Schulter gezeigt?
7.
Der Abend brachte die ersten regenschweren Wolken und ein blutrotes Farbenspiel an der westlichen Kimm, das sich langsam bis in den Zenit ausbreitete und auch das Wasser mit düsteren Farben überzog.
Im Nordosten erstrahlte die Küste im Schein der untergehenden Sonne, während sich dahinter der Himmel schon dunkel färbte. Dan O’Flynn beobachtete durchs Spektiv. Die Sicht betrug bestimmt mehr als zehn Seemeilen und zeigte ihm die der Pamban-Passage vorgelagerte Inselkette in großer Deutlichkeit.
Unvermittelt legte sich eine sanfte Hand auf seinen Arm.
„Gibst du mir dein Fernauge?“ fragte Dina.
Dan war so in seine Betrachtungen versunken gewesen, daß er sie nicht vorher bemerkt hatte. Dafür sah er jetzt einige grinsende Gesichter. Die Betreffenden warteten wohl nur darauf, daß er die schwarzhaarige Schönheit an sich zog.
Tatsächlich war die Versuchung groß. Die junge Frau verströmte einen Duft wie Pfirsichblüten und Mandelöl, und ihr Blick suchte den seinen. Da stand mehr zu lesen, als daß sie nur in die Ferne schauen wollte.
Ohne zu zögern, reichte ihr Dan O’Flynn das Spektiv. Sie stellte sich gar nicht dumm an und wußte auch sofort, wie die Schärfe zu regulieren war. Offenbar hatte sie einen guten Lehrmeister gehabt, der ihr nicht nur die portugiesische Sprache beigebracht hatte.
Im letzten Moment schluckte Dan eine diesbezügliche Frage unausgesprochen hinunter.
Dina wandte sich der kleinen Flotte zu.
„Das sind viele“, sagte sie nachdenklich. „Hoffentlich versucht niemand, das Heiligtum zu stehlen.“
Als sie den Kieker zurückgab, berührten ihre Finger wie unabsichtlich Dans Hand. Ihr voller Mund und ihre Augen versprachen dabei alle Genüsse des Paradieses. Dan O’Flynn spürte, daß er der Versuchung nicht mehr lange würde widerstehen können.
„Wir brauchen niemanden zu fürchten“, sagte er, um sich abzulenken. „Während der Nacht sind Wachen aufgestellt.“
„Bei jedem Wetter?“ fragte Dina – und das keineswegs grundlos. Achteraus an Steuerbord hatte sich eine drohende Schwärze zusammengeballt, aus der erste Blitze zuckten. Der Wind wehte jetzt aus Süd bis West und trug den Geruch von Schwefel mit sich.
„Es wäre unverantwortlich, ein Schiff ohne Wachen zu segeln“, sagte Dan.
Aus der Ferne erklang Donnergrollen. Längliche Wellen und Schaumkronen entstanden, aber noch war die Brise nicht so stark, daß sie Gischt aufgewirbelt hätte.
Pausenlos zuckten die Blitze über die achterliche Kimm. Die Nacht brach schneller herein als angenommen, weil die Gewitterwolken das letzte Abendrot verschluckten.
Auf der Schebecke wurden die Laternen angesteckt.
Unerwartet heftig tauchte der Bug des Dreimasters in ein Wellental ein. Brecher schlugen über der Back zusammen, gleich darauf schien das Schiff steil in den nunmehr völlig schwarzen Himmel emporzusteigen.
Dina verlor das Gleichgewicht, stürzte auf die Planken und rutschte, der Krängung des Schiffes folgend, zur Backbordverschanzung.