Die Elefanten holten schnell auf.
Madhavs Hoffnung, die Männer würden ihn unbeachtet lassen, trog. Das wurde ihm spätestens klar, als ihn einer der Mahauts aufforderte, anzuhalten.
„Du bist allein?“
Er nickte stumm.
„Was hast du auf dem Wagen?“
„Handelswaren, Herr.“
„Abladen!“
„Die Hitze verdirbt mir die Fische“, jammerte Madhav. „Deshalb bin ich im Morgengrauen losgefahren. Wie soll ich meine Familie ernähren, wenn ich stinkende Ware verkaufen muß?“
Offenbar hatte der Soldat doch ein Einsehen. Er funkelte den Händler zwar zornig an, erklärte aber in etwas versöhnlicherem Tonfall: „Wir suchen einen Mann, älter als du, mit kahlgeschorenem Schädel. Ist er dir begegnet?“
„Nein“, sagte Madhav. „Ich habe niemanden gesehen.“
Die Mahauts zwangen ihre Tiere in die Knie, so daß die Soldaten absteigen konnten. Der Anführer und seine drei Männer umringten den Karren.
„Du bist Madhav?“
„Ja“, erwiderte er verwundert. „Woher wißt ihr?“
Der Anführer lachte spöttisch. „Deine Frau war nicht so verstockt. Ein paar Stockhiebe haben ihre Zunge gleich gelöst. Und weißt du auch, was sie uns erzählt hat?“
Für Madhav war alles aus. Daß ihn die Soldaten nicht ungeschoren laufenlassen würden, wurde ihm sofort klar. Die Angst trieb ihn dazu, daß er vom Bock sprang und, Haken schlagend, wie ein Hase davonhetzte. Wenn er es bis zum Wald schaffte, der in knapp dreihundert Schritten Entfernung begann, war er vorerst in Sicherheit. Er blickte nicht zurück, aber er hörte, daß ihm einer der Mahauts mit seinem Elefanten folgte.
Das andere Tier stürzte den Karren um und fegte die Trümmer mit dem Rüssel zur Seite.
Malindi Rama versuchte ebenfalls zu fliehen, schaffte es aber nicht. Zum einen, weil er plötzlich einknickte, zum anderen, weil die Soldaten offenbar nur darauf gewartet hatten. Ein Peitschenhieb traf ihn zwischen die Schulterblätter und ließ ihn aufschreien.
Er verlor den Turban. Wieder klatschte die Lederschnur auf seinen Rücken nieder und hinterließ einen blutigen Striemen.
„Wo ist der Zahn?“
Malindi schwieg. Die Soldaten zerrten ihn hoch und droschen mit den Fäusten auf ihn ein. Vergeblich versuchte er, die Hiebe abzuwehren. Wenn kein Wunder geschah, würden sie ihn totschlagen.
Er stürzte, wurde hochgerissen und erneut traktiert. Einer stieß ihn zum anderen, sie schlugen, beschimpften und bespuckten ihn. Irgendwann wurden die Schmerzen bedeutungslos, alles um ihn her versank, in einem wirbelnden Reigen der unterschiedlichsten Empfindungen.
Erst ein gellender Schrei drang wieder bis in Malindi Ramas Bewußtsein und rüttelte ihn jäh aus der beginnenden Apathie auf. Es war der Todesschrei eines Menschen. Der Elefant hatte Madhav eingeholt und wahrscheinlich niedergetrampelt.
Jemand zerrte ihm den Lederbeutel vom Hals. Wie durch einen blutroten Nebel hindurch gewahrte Malindi, daß die Männer den Weisheitszahn Buddhas betrachteten. Wenigstens schlugen sie nicht mehr auf ihn ein.
Er wollte sich hochstemmen, sackte aber sofort wieder zurück.
„Ihr habt den Zahn!“ stieß er abgehackt und keuchend hervor. „Laßt mich in Frieden.“
Der Anführer zog eine prunkvolle Klinge, wie sie für Opferrituale verwendet wurden. Seine Gesten ließen keine Zweifel an seiner Absicht zu.
„Nein!“ jammerte Malindi. „Nicht! Ich – ich habe viel mehr als den Zahn.“
Der Opferdolch blitzte in der Sonne. Malindi kreischte hysterisch auf.
„Glaubt mir! Ich biete euch Dinge, von denen ihr nur träumen könnt!“
Die Klinge verharrte eine Handbreite über seiner Kehle. Daß ihm die Soldaten nicht glaubten, spürte er. Andererseits waren sie sich seiner sicher. Eine Flucht war unmöglich.
„Sprich!“ forderte ihn der Anführer auf. „Aber wenn du uns nicht überzeugst …“ Der Dolch berührte Malindi Ramas Hals.
An diesem Morgen wirkte Mac Pellew mit sich und der Welt zufrieden. Das geschah höchst selten und war schon deshalb bemerkenswert.
„Wir hatten eine ruhige Nacht und werden heute Tuticorin verlassen“, antwortete er auf entsprechende Fragen. „Was wollt ihr mehr?“
Es sah tatsächlich so aus, als hätten sich die Gemüter beruhigt. Die Fischer waren vor Stunden aufs Meer hinausgesegelt, ohne von der Schebecke überhaupt noch Notiz zu nehmen, und an Land versammelte sich allmählich die übliche Menschenmenge. Niemand traf Anstalten, den Dreimaster anzugreifen.
„Mag sein, daß sie Malindi Rama erwischt haben“, sagte Ben Brighton. „Das würde alles erklären.“
„Wir müssen sowieso unsere Vorräte ergänzen“, erklärte der Kombüsenmann. „Am besten, ich lasse mich an Land pullen und erledige alles Nötige. Dann verlieren wir keine Zeit.“
Der Erste Offizier musterte ihn überrascht.
„Warum so eilig, Mac?“
„Jede Schönwetterperiode sollte man nutzen, solange sie anhält. Ich bitte um Erlaubnis zum Landgang.“
Ben Brighton zog irritiert die Brauen hoch. Hin und wieder geschahen also tatsächlich noch Wunder, dann lernte ein gewisser zweiter Koch von den Zuständen an Bord eines englischen Kriegsschiffs, was Disziplin bedeutete.
„Erlaubnis erteilt“, erwiderte er knapp, fügte aber einen Atemzug später hinzu, als Mac schon nach Männern suchte, die ihn an Land pullten: „Sei trotzdem vorsichtig.“
Der Kombüsenmann hatte das Gefühl, etwas Großes vollbracht zu haben. Nicht einmal der Seewolf war auf die Idee verfallen, den Bewohnern von Tuticorin Theater vorzuspielen. Dabei war alles so einfach, man mußte eben nur wissen, wie man sich einen Backenzahn beschaffte.
Die Arwenacks würden staunen. Deshalb hatte er nichts verlauten lassen.
In Gedanken versunken, bemerkte Mac nicht, daß die Jolle schon anlegte. Erst als Mac O’Higgins, der als Bootssteurer fungierte, ihn entgeistert fragte, ob er nun doch nichts einkaufen wolle, reagierte er.
„Wartet auf mich! Ich bin wahrscheinlich gleich wieder zurück.“
Kopfschüttelnd blickten die Rudergasten hinter ihm her, als er sich in das Getümmel der Marktstände stürzte.
„Mac träumt mit offenen Augen“, murmelte Bob Gray. „Seltsam, findet ihr nicht?“ Wenn er gewußt hätte, was den Koch bewegte, wäre ihm vermutlich alles noch seltsamer erschienen.
Inzwischen hatte für den Kombüsenmann ein Spießrutenlaufen begonnen. Er fühlte sich gar nicht mehr so wohl in seiner Haut. Freundlich war die Stimmung noch nicht. Mac hatte das Gefühl, als starre ihn jeder an.
Als er sicher sein konnte, daß man ihn von der Jolle aus nicht mehr sah, sprach der den nächstbesten Inder an. Er nannte nur einen Namen: „Chandra Bose“. Trotzdem verstand ihn der Mann erst, als er den Namen wiederholte. Die Betonung war deutlich anders. Mac nahm sich vor, die Aussprache so beizubehalten.
Er wurde von Mann zu Mann weitergereicht. Einige schoben ihn ziemlich unsanft die Straße entlang, aber Mac Pellew achtete kaum darauf.
„Zahn“, sagte er. „Ich habe den Zahn.“ Niemand wußte, was er meinte.
Vorübergehend verlor er die Orientierung. Aber als er in einer Menschenmenge steckenblieb, entdeckte er hinter den Häusern die Masttoppen der Schebecke. Einige hundert Yards war er schon vom Hafen entfernt. Falls ihm jetzt die Meute