Die Ernüchterung war wie ein kalter Guß. Plötzlich sah Carberry die Situation so, wie er sie früher stets gesehen hätte, unverständlich und erniedrigend. Ausgerechnet er hatte es gewiß nicht nötig, sich mit einer Frau im vordersten Winkel des Schiffes zu verkriechen, zumal Dinas Leidenschaft nur vorgetäuscht war. Ihr Interesse galt allein der Reliquie, das hatte sie soeben deutlich bewiesen.
Spürte sie seine Bedenken und seine abweisende Haltung? Suchten deshalb ihre Lippen schon wieder nach den seinen?
Carberry schob sie endgültig von sich. Er empfand nichts mehr und fragte sich nur noch, was wohl die Arwenacks sagen würden. Ob sie es wagten, offen über ihn zu lachen? Oder würden sie ihn vielleicht doch beneiden?
„Du kriegst den Zahn“, hörte er sich sagen. „Beim übernächsten Glasen auf der Kuhl.“
Dina wollte sich auf ihre Art bedanken, aber Carberry, ließ sich nicht mehr einwickeln. Ein wenig floh er auch vor sich selbst und seinen Gefühlen, als er das Schott aufstieß und hinausstürmte.
Vor der Vorpiek war niemand mehr. Aber selbst das registrierte er nur am Rande.
8.
Vorübergehend warf er sich auf seine Koje, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte zu den Deckenbalken hinauf. Er brauchte Zeit, um mit sich selbst ins Reine zu gelangen. Immerhin hatte er schon mit dem Gedanken geliebäugelt, Dina zu bitten, ihn nach England zu begleiten. Ein hirnloser Narr war er, daß er überhaupt ihren Zärtlichkeiten Glauben geschenkt hatte.
Edwin Carberry handelte dann nach dem biblischen Prinzip, das da lautete „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Dina hatte ihn betrogen, warum sollte er nicht mit gleicher Münze zurückzahlen?
Einen ausgeschlagenen Backenzahn hatte er noch. Den kramte er unter der Matratze hervor.
Als er kurz vor, der verabredeten Zeit zur Kuhl hinaufstieg, quälten ihn schon wieder Zweifel. Warum kümmerte er sich überhaupt noch um die Frau? Vielleicht wäre es besser gewesen, sie die paar Stunden, die der Törn nach Mannar noch dauerte, einfach unbeachtet zu lassen.
Aber dann sah er sie auf der Kuhlgräting sitzen, und die Erinnerung brach wie eine schlecht verheilte Wunde auf. Er würde lange brauchen, ihre Leidenschaft zu vergessen. Irgendwo blieb ein Rest von Hoffnung, nicht alles sei nur gespielt gewesen. Das Aufleuchten in ihren Augen, als sie ihn sah, verriet, daß sie viel für ihn empfand. Oder für die Reliquie.
Carberry zwang sich, ruhig zu bleiben. Einen solchen Zwiespalt hatte er selten erlebt. Offenbar war ihm Dina doch keineswegs so gleichgültig, wie er sich einzureden versuchte.
Langsam, ohne übertriebene Hast, ging er zu ihr hin. Sie lächelte.
„Ich warte auf dich, Senhor Edwin“, flüsterte sie.
„Das Glasen …“
Sie winkte ab. „Warum nicht schon vor der Zeit auf etwas Schönes warten?“
„Ich habe den Zahn für dich.“
Ihr Lächeln wirkte jetzt sehr zufrieden. „Es ist bedauerlich, daß sich unsere Wege trennen.“
„Du könntest an Bord bleiben.“ Er mußte verrückt sein, so etwas vorzuschlagen. Eben noch hätte er sie am liebsten weit weg gewünscht.
„Niemals“, sagte Dina. „Und schon gar nicht, nachdem ich den heiligen Weisheitszahn Buddhas habe. Unsere Welten sind grundverschieden.“
„Wenn ich den Zahn zurückbringe? Niemand hat den Verlust bisher bemerkt …“
„Gib ihn mir!“ Ihre Stimme klang schrill und paßte nicht mehr zu ihrem Lächeln. „Weißt du, wie lange ich darauf gewartet habe?“
Edwin Carberry wollte es nicht wissen. Der Eindruck, daß er nur eine kleine Figur in Dinas Spiel um Reichtum und Macht war, wurde zur Gewißheit.
Er hielt ihr den ausgeschlagenen Backenzahn hin.
„Da“, sagte er. „Nimm ihn dir, und dann sieh zu, daß wir uns nie wieder begegnen. Ich will dein verlogenes Gesicht nicht mehr sehen.“
Sie hatte nur noch Augen für den Zahn. Als Carberry sich umwandte, schrie sie auf: „Du Lügner, du elender Mistkerl! Der Zahn ist falsch! Du hast wohl geglaubt, ich würde das nicht bemerken? Dir kratze ich die Augen aus!“
Ehe der verdutzte Profos reagieren konnte, sprang sie ihn von hinten an und grub ihm ihre Fingernägel ins Gesicht. Sie wurde zur Furie, dennoch zögerte Carberry, sie einfach niederzuschlagen.
Die Arwenacks standen bloß da und gafften. Der Profos und die Frau, die ihm derart zusetzte, waren schließlich ein einmaliger Anblick.
Keiner hatte bemerkt, daß fünf Singhalesen an Deck erschienen waren. Prompt griffen sie ein und zerrten die heftig widerstrebende Dina von Carberry weg, wohingegen die Arwenacks nur grinsten und keinen Finger rührten, um ihrem Profos zu helfen.
Der hasenschartige Tipu bückte sich vor der Gräting und hob, den Zahn auf, den die Frau achtlos weggeworfen hatte, Aufgeregt begann er auf die anderen einzureden. Natürlich mußte ihm klar sein, was geschehen war und daß Dina versucht hatte, ihre Begleiter zu betrügen.
Mit der flachen Hand schlug er sie ins Gesicht. Dina kreischte und tobte und verwandelte sich endgültig in eine geifernde Hexe.
Carberry wurde davon merkwürdig berührt. Er fragte sich, was die Singhalesen mit ihr anstellen würden, aber als sie die Frau ans Schanzkleid zerrten, griff er zu spät ein und konnte nicht mehr verhindern, daß sie außenbords geworfen wurde.
Prustend und spuckend tauchte Dina auf, sackte ein zweites Mal ab, begann dann jedoch ruhig zu schwimmen.
Die verfolgenden Boote waren nahe. Sie würde auf einem davon an Bord gehen und die Überfahrt nach Mannar fortsetzen können.
Die Singhalesen an Deck der Schebecke brüllten aus Leibeskräften nach achtern. Zweifellos berichteten sie ihren Landsleuten, was vorgefallen war.
Dina hatte inzwischen eine der Pattamars erreicht. Im selben Augenblick stockte Carberry der Atem. Die Männer auf der Pattamar schlugen mit ihren Riemen auf die hilfesuchende Frau ein. Sie ließen ihr nicht die geringste Chance.
Keiner der Arwenacks hatte eine Möglichkeit, noch einzugreifen. In ohnmächtigem Entsetzen mußten sie mit ansehen, wie Dina für ihre Gier büßte. Vergeblich versuchte sie, sich von der Bordwand abzusetzen, aber die Schläge hagelten zu dicht auf sie nieder. Sie sackte weg.
Edwin Carberry wandte sich ab. „Hilf ihr, Herr!“ murmelte er in einem stillen Gebet.
Was geschehen war, hatte er nicht gewollt. Er hatte es aber ebensowenig voraussehen können.
Viele Menschen hatte er schon sterben sehen. Immer war er davon irgendwie berührt worden. Aber diesmal war es ganz anders.
Erschüttert verschwand er unter Deck und war froh darüber, daß ihn niemand ansprach.
Während der Profos vorübergehend mit sich selbst allein sein wollte, dankte keine dreihundert Yards entfernt ein unglaublich dürrer Mann der Vorsehung, daß sie ihn vor dem Tod bewahrt hatte. Nicht mal mehr die auf seinem Kopf eintätowierte Karte des Tempels von Kandy bereitete ihm noch Kopfzerbrechen.
Er hatte seine Pläne geändert. Daß er sogar Gegner zu überzeugen verstand, bewies die Tatsache, daß er noch lebte. Nur hin und wieder spürte er noch Schmerzen. Die Männer der Stadtwache von Tuttukuddi hatten ihm übel zugesetzt.
Zur Zeit hielt er sich in einer Pattamar verborgen, die ihn nach Mannar bringen würde, es war besser, wenn die Engländer glaubten, Malindi Rama sei tot.
Sein Traum von Macht und Reichtum war noch lange nicht ausgeträumt.
Schon