Und demnach war das römische Gemeinwesen, als es sich in dem Zustande befand, wie ihn Sallust schildert, nicht mehr bloß äußerst schlecht und sittenlos, wie er sich ausdrückt, sondern es war überhaupt kein Gemeinwesen mehr, wenn wir es an dem Maßstab messen, welchen die von den Größen des damaligen Gemeinwesens gepflogene Untersuchung ergab. Wie auch Tullius[113] selbst nicht mit Scipios oder eines andern, sondern mit seinen eigenen Worten zu Beginn des fünften Buches im Anschluß an den von ihm zitierten Vers des Dichters Ennius: „Auf den Sitten und Männern der alten Zeit beruht der römische Staat“ sich dahin äußert: „Diesen Vers in seiner Gedrängtheit und Wahrheit hat er, so möchte ich glauben, einem Orakelspruch entnommen. Denn weder hätten einzelne Männer, wenn nicht die Bürgerschaft so gesittet gewesen wäre, noch hätten die Sitten, wenn nicht solche Männer an der Spitze gestanden wären, einen so bedeutenden, so gerecht und weithin herrschenden Staat zu gründen oder so lange zu behaupten vermocht. So drängte vordem die Sitte darauf hin, hervorragende Männer zu verwenden, und diese ausgezeichneten Männer wahrten hinwiederum die alte Sitte und die Einrichtungen der Vorfahren. Unsere Zeit aber, die den Staat überkommen hat als ein prächtiges, aber vor Alter verblassendes Gemälde, hat es nicht nur verabsäumt, dieses Gemälde in den ursprünglichen Farben zu erneuern, sondern hat nicht einmal für die Erhaltung seiner Form und sozusagen seiner Umrißlinien gesorgt. Was ist denn noch übrig von den alten Sitten, auf denen nach Ennius' Worten der römische Staat beruht? Vergessen sehen wir sie und veraltet, so sehr, daß man nichts mehr davon weiß, geschweige denn sie übt. Und was soll ich von den Männern sagen? Gerade infolge des Mangels an Männern sind ja die Sitten dahingeschwunden, und wir stehen einem Unheil gegenüber, das uns nicht nur die Pflicht der Verantwortung auferlegt, sondern uns geradezu wie Kapitalverbrecher zur Verteidigung nötigt. Denn nicht durch einen Zufall, sondern durch unsere Schuld haben wir vom Staat nur noch den Namen, während wir der Sache längst verlustig gegangen sind.“
Dies Geständnis machte Cicero lange nach dem Tode des Africanus, den er in seinem Werke die Lehre über den Staat erörtern ließ, aber noch vor der Ankunft Christi; würden solche Ansichten nach der Ausbreitung und dem Obsiegen der christlichen Religion gehegt und geäußert, so würden unsere Gegner diese Zustände ohne Zweifel den Christen zur Last legen. Warum haben demnach ihre Götter nicht vorgebeugt, sondern den Staat, dessen Verlust Cicero lange vor der Ankunft Christi im Fleische so kläglich betrauert, damals zugrunde gehen lassen? Seine Lobredner mögen zusehen, in welchem Zustand sich das Gemeinwesen selbst unter jenen alten Römern und unter der Herrschaft der alten Sitten befand, ob darin wahre Gerechtigkeit blühte oder ob es etwa selbst damals schon nicht lebendig gewesen sei an sittlicher Kraft, sondern lediglich geschminkt mit farbiger Pracht, wie das auch Cicero unbewußt andeutete, da er von ihm in dem Bilde eines Gemäldes sprach. Wir werden das ja ein andermal, wenn es Gott gefällt, ins Auge fassen. Ich werde mich nämlich an seinem Orte[114] bemühen, an der Hand der Definitionen Ciceros, in denen er mit den Worten Scipios kurz die Begriffe Gemeinwesen und Volk feststellt [zur Bekräftigung dienen viele in derselben Erörterung enthaltene Ausprüche Ciceros selbst und derer, die er redend einführt], den Nachweis zu führen, daß jenes Gebilde niemals ein Gemeinwesen war, weil darin niemals wahre Gerechtigkeit zu finden war. Nach anderen Definitionen jedoch, die der Wahrheit näher kommen dürften, war es in seiner Art allerdings ein Gemeinwesen und dieses wurde von den Römern der alten Zeit besser verwaltet als von den späteren; aber die wahre Gerechtigkeit herrscht nur in dem Gemeinwesen, dessen Gründer und Leiter Christus ist, wenn man dieses Gebilde auch ein Gemeinwesen nennen will, da es ja unbestreitbar eine Sache des Volkes ist. Wenn aber diese Bezeichnung, die für einen andern Begriff und in anderem Sinne üblich ist, der bei uns gebräuchlichen Ausdrucksweise vielleicht weniger entspricht, so sagen wir: in dem Staate herrscht die wahre Gerechtigkeit, von dem die Heilige Schrift[115] rühmt: „Herrliches wird von dir gesagt, Staat Gottes“.
22. Die Götter der Römer haben sich stets völlig gleichgültig dazu verhalten, daß der Staat an Sittenlosigkeit zugrunde ging.
Was jedoch die vorliegende Frage betrifft, so mag man den römischen Staat, den der Vergangenheit und den gegenwärtigen, herausstreichen wie man will; es bleibt doch bestehen, daß er nach den gelehrtesten römischen Schriftstellern lange schon vor Christi Ankunft zum schlechtesten und sittenlosesten herabgesunken war oder vielmehr überhaupt kein Staat mehr war und an völliger Sittenlosigkeit zugrunde gegangen war. Damit es nun nicht zu diesem Äußersten komme, hätten die Götter, seine Schutzherren, dem sie verehrenden Volke vor allem Lebens- und Sittenvorschriften geben sollen, da sie doch vom Volke mit so vielen Tempeln, so vielen Priestern und vielgestaltigen Opfern, mit so zahlreichen und mannigfaltigen Gottesdiensten, mit soviel festlichen Feiern und mit so vielen und großartigen Festspielen verehrt wurden; aber bei all dem haben die Dämonen lediglich ihr Geschäft besorgt, gleichgültig dagegen, wie ihre Verehrer lebten, nein, eifrig darauf hinarbeitend, daß sie ein schlechtes Leben führen sollten, wenn sie nur zu ihren Ehren all das in knechtischer Furcht leisteten. Oder wenn die Götter solche Vorschriften erließen, so möge man die der römischen Bürgerschaft gegebenen Gesetze aufweisen, zeigen und verlesen, die die Gracchen übertreten haben, als sie durch Aufstände alles durcheinander brachten, oder ein Marius, ein Cinna, ein Carbo, als sie sogar zu Bürgerkriegen übergingen, die aus ganz ungerechten Gründen unternommen, mit Grausamkeit geführt und noch grausamer beendet wurden, ein Sulla endlich, dessen Leben, Sitten und Taten nach der Schilderung Sallusts und anderer Geschichtsschreiber nur allgemeinen Abscheu erregen können. Hier gibt es keinen Ausweg: der Staat war damals zugrunde gegangen.
Werden sie vielleicht — wie es oft geschieht — im Hinblick auf diese Sittenverwilderung unter der Bürgerschaft den Ausspruch Vergils[116] zur Verteidigung ihrer Götter entgegenhalten:
„Von den verlass'nen Altären und Tempeln entwichen die Götter
Insgesamt, auf denen das Wohl des Reiches beruhte“?
Ist dem so, dann haben unsere Gegner vor allem keinen Grund, sich über die christliche Religion zu beklagen, als hätten, durch diese beleidigt, ihre Götter sie verlassen, da ja ihre Vorfahren längst schon durch ihre Sittenlosigkeit die vielen kleinen Götter wie Mücken von den Altären der Stadt verjagt haben. Aber wo war diese Schar von Gottheiten zu der Zeit, als lange vor der Verderbnis der alten Sitten Rom von den Galliern eingenommen und niedergebrannt wurde? Damals ist ja die ganze Stadt in die Gewalt der Feinde gekommen, nur der kapitolinische Hügel war noch übrig, und auch der wäre erobert worden, wenn nicht statt der schlafenden Götter wenigstens die Gänse gewacht hätten. Infolge dessen wäre Rom beinahe dem Aberglauben der Ägyptier mit ihrer Tier- und Vogelanbetung verfallen; schon feierte man zu Ehren der Gans Feste. Indes handle ich hier noch nicht von derlei äußerlichen und mehr den Leib als die Seele betreffenden Übeln, wie sie von Feinden oder durch anderes Mißgeschick verursacht werden; vielmehr steht jetzt zur Besprechung der Sittenverfall, der mit allmähliger Veränderung anhub, dann aber wie ein Gießbach der Tiefe zudrängte, so daß das Gemeinwesen, obwohl die Häuser und die Mauern keinen Schaden aufwiesen, zur Ruine wurde und hervorragende Geister kein Bedenken trugen, es für verloren zu erklären. Mit Recht aber wären ,,die Götter insgesamt von den verlassenen Altären und Tempeln entwichen“ zum Ruin des Staates, wofern die Bürgerschaft ihre Vorschriften über rechtschaffenes Leben und Gerechtigkeit verachtet hätte. So jedoch, was waren das, ich bitte euch, für Götter! Sie weigerten sich mit dem ihnen ergebenen Volke zu leben und hatten doch nichts getan, um es durch Belehrung von den schlechten Wegen auf gute zu bringen!
23. Die wechselnden irdischen Verhältnisse sind nicht