20. Das Ideal der Glückseligkeit und der Sittenzustände nach der Anschauung derer, die die Zeiten der christlichen Religion anklagen.
Indes diese Verehrer und Anhänger der Götter, zugleich mit Lust und Liebe deren Nachfolger in Verbrechen und Lastern, läßt es völlig kühl, wenn die größte Verworfenheit und Lasterhaftigkeit im Staate herrscht. „Wenn er nur feststeht“, sagen sie, „wenn er nur blüht, reich an allem Überfluß, ruhmvoll durch Siege oder noch besser sicher befriedet. Was geht uns seine sittliche Beschaffenheit an? Nein, uns liegt vielmehr daran, daß jeder seine Reichtümer stetig vermehre, um den täglichen Verschwendungen gewachsen zu sein und die wirtschaftlich Schwächeren sich dienstbar zu machen. Die Armen sollen den Reichen unterwürfig sein, um satt zu werden und unter deren Schutz sich einer trägen Ruhe zu erfreuen; die Reichen sollen die Armen in großer Zahl als ihren Stab und als Werkzeuge ihrer Hoffart um sich scharen. Die Menge soll denen Beifall klatschen, die sie mit Vergnügungen überschütten, nicht denen, die auf den gemeinen Nutzen bedacht sind. Nichts Unbequemes soll befohlen, nichts Unsittliches verwehrt werden. Die Könige sollen bei ihren Untertanen nicht auf Gediegenheit, sondern auf Unterwürfigkeit schauen. Die Provinzen sollen in den Königen nicht die obersten Wächter der Sitte, sondern die Herren ihrer Habe und die Garanten ihrer Freuden erblicken und sie nicht aufrichtig ehren, sondern in gemeiner und knechtischer Weise fürchten. Durch Gesetze soll nur der Schaden geahndet werden, den man etwa an fremden Reben, nicht aber der, den man am eigenen Leben anrichtet. Vor den Richter darf niemand geschleppt werden, außer wer sich für den Besitz, das Haus oder das Leben eines andern oder gegen jemand wider dessen Willen lästig und schädlich erweist; im übrigen mag jeder mit seiner Habe, mit seinen Untergebenen und mit allen, die ihm willig sind, tun, was ihm beliebt. Öffentliche Dirnen sollen im Überfluß vorhanden sein für alle, die ihre Lust befriedigen wollen, und speziell für die, die sich keine eigenen halten können. Häuser soll man bauen so groß und schön als möglich, üppige Mahle sind zu veranstalten, jedermann soll Tag und Nacht hindurch spielen und trinken, speien und schlemmen können, wo es ihn freut. Überall erschalle Tanzmusik und die Theater mögen aufjauchzen vor wilder Ausgelassenheit und jeder Art grausamer und schändlicher Lust. Wem eine solche Glückseligkeit mißfällt, der gelte als Feind des Staates; wer darin etwas zu ändern oder sie uns zu nehmen sucht, den soll das freie Volk überschreien, von der Schwelle verjagen, aus der Zahl der Lebendigen tilgen. Das seien unsere wahren Götter, die eine solche Glückseligkeit den Völkern verschaffen und sie ihnen erhalten. Sie sollen verehrt werden, wie sie es nur wünschen, mögen Spiele fordern welcher Art immer, um sie mit und von ihren Verehrern zu genießen; nur das eine haben sie zu leisten, daß einer solchen Glückseligkeit keine Störung drohe, nicht vom Feinde, nicht von der Pest, nicht von irgend einer Drangsal“. — Es wäre Aberwitz, ein solches Gemeinwesen — ich sage nicht mit dem römischen Reich, sondern — mit dem Haus des Sardanapal auf gleiche Stufe zu stellen; dieser König war so sehr den Lüsten ergeben, daß er sich auf das Grabmal die Inschrift setzen ließ, er besitze im Tode nur das, was seine Lust bei Lebzeiten genossen habe. Wenn er ihr König wäre und in solchen Dingen ihnen willfahrte, ohne irgend jemand auch nur mit leisester Strenge entgegenzutreten, ja, dem würden sie lieber, als die alten Römer dem Romulus, Tempel und Flamen weihen.
21. Ciceros Ansicht über den römischen Staat.
Gibt man aber nichts auf den, der den römischen Staat den schlechtesten und sittenlosesten nannte, und kümmern sich unsere Gegner nicht darum, welche Flut und Schmach der äußersten Entsittlichung sich über ihn ergieße, zufrieden, wenn er nur bestehen bleibt, so sollen sie vernehmen, daß er nicht, wie Sallust erzählt, zum schlechtesten und sittenlosesten Staate geworden sei, sondern daß er, wie Cicero ausführt, damals schon völlig zugrunde gegangen ist und überhaupt kein Staat mehr war. Cicero läßt nämlich Scipio, denselben, der Karthago zerstört hatte, über den Staat sich äußern zu einer Zeit, da man schon vorausahnte, er werde an dem Verderbnis, von dem Sallust schreibt, in kurzer Frist zugrunde gehen; denn die Ausführungen sind in die Zeit nach dem Morde eines der beiden Gracchen verlegt, von wo an Sallust die schweren Aufstände datiert[109] ; sein Tod wird in jenem Werke Ciceros erwähnt. Also Scipio sagt zunächst am Ende des zweiten Buches[110] : Wie beim Saiten- und Flötenspiel und auch bei der Vokalmusik auf eine Art Zusammenklingen der verschiedenen Töne zu achten sei, dessen Störung oder Verstimmung ein musikalisches Ohr nicht ertragen könne, und dieses Zusammenklingen durch gehörige Abstimmung von ganz ungleichen Stimmen eben doch übereinstimmend und angenehm werde, so bilde auch der Staat durch eine ähnliche Angleichung der höchsten und niedersten Stände, zwischen denen die mittleren stehen, ein Zusammenklingen infolge der Übereinstimmung ganz ungleicher Elemente, und was die Musiker beim Gesang die Harmonie nennen, das sei im Staate die Eintracht, das festeste und beste Band der Wohlfahrt in jeglichem Gemeinwesen, und sie sei ohne Gerechtigkeit undenkbar; nachdem er sich dann etwas ausführlicher darüber ergangen hatte, von welchem Vorteil die Gerechtigkeit für den Staat sei und wie sehr deren Mangel schade, ergriff Philus das Wort, einer der Teilnehmer an der Unterredung, und verlangte, daß diese Frage genauer behandelt und über die Gerechtigkeit eine eingehendere Erörterung gepflogen werde, weil bereits die allgemeine Ansicht dahin neigte, ein Staat könne ohne Ungerechtigkeit nicht regiert werden. Auch Scipio meinte[111] , diese Frage müsse erörtert und gelöst werden; was er bisher über den Staat beigebracht zu haben glaube, sei nicht derart, daß man weiterfahren könne, ehe nicht festgestellt sei, die Ansicht, daß ein Staat ohne Ungerechtigkeit nicht regiert werden könne, sei nicht nur unrichtig, sondern das Gegenteil sei allein richtig, daß nämlich ein Staat ohne allseitige Gerechtigkeit nicht regiert werden könne. Die Auseinandersetzung über die Frage wurde auf den folgenden Tag verschoben und im dritten Buch ist dieser Punkt in einem heftigen Meinungsstreit vorgeführt, Philus vertrat dabei die Ansicht, daß ein Staat ohne Ungerechtigkeit nicht regiert werden könne, nachdem er sich feierlich dagegen verwahrt hatte, als teile er sie; er führte mit Eifer die Sache der Ungerechtigkeit gegen die Gerechtigkeit[112] , indem er sich scheinbar ernstlich bemühte, mit Wahrscheinlichkeitsgründen und Beispielen den Nachweis zu erbringen, daß für den Staat die Ungerechtigkeit ein Vorteil sei, die Gerechtigkeit dagegen nichts tauge. Darauf nahm sich auf allgemeinen Wunsch Cälius der Sache der Gerechtigkeit an und verfocht nach Kräften den Satz, daß für einen Staat nichts so schädlich sei als die Ungerechtigkeit und daß ein Gemeinwesen überhaupt ohne große Gerechtigkeit nicht regiert werden noch bestehen könne.
Nachdem diese Frage genügend erörtert ist, nimmt Scipio den unterbrochenen Faden wieder auf und wiederholt und empfiehlt seine kurze Begriffsbestimmung des Gemeinwesens, wonach er es als eine Sache des Volkes bezeichnet hatte. Als Volk aber gilt ihm nicht eine beliebige Vereinigung einer Menge, sondern eine durch Übereinstimmung des Rechtes und durch die .Gemeinsamkeit des Nutzens zusammengeschlossene Vereinigung. Er legt sodann dar, wieviel bei wissenschaftlichen Untersuchungen auf die Begriffsbestimmung ankomme, und zieht aus den erwähnten Begriffsbestimmungen den Schluß, das Gemeinwesen sei dann ein wahres d. i. eine Sache des Volkes, wenn es gut und gerecht geführt wird, sei es von einem Monarchen oder von einigen Optimaten oder von der Gesamtheit des Volkes. Wenn aber der König ungerecht ist, ein Tyrann, wie er ihn in diesem Falle nach dem Vorgang der Griechen nennt, oder wenn die Optimaten