6. Niemals haben die Götter der Heiden eine Lehre über den rechten Wandel gegeben.
Diese böswillige Absicht bestimmte die Götter, sich um die Lebensführung und die Sitten der sie verehrenden Staaten und Völker nicht zu kümmern; sie ließen es vielmehr zu, ohne irgendwie ein abschreckendes Verbot einzulegen, daß ihre Verehrer — nicht etwa an Feldern und Weinbergen, nicht an Haus und Gut, nicht am Leibe, der dem Geiste untergeordnet ist, sondern — gerade am Geiste, dem Gebieter des Leibes, in schauerliche und fluchwürdige Übel versanken und ganz entsittlicht wurden. Man lege doch den Finger darauf, man weise es nach, wenn sie hindernd eingriffen. Nur komme man uns nicht mit dem triumphierenden Hinweis auf ein unkontrollierbares Gesäusel, das einigen wenigen ins Ohr geraunt und als eine Art Geheimreligion anvertraut worden sei, woraus man Rechtschaffenheit und Keuschheit des Wandels lernen könne[84] ; sondern man zeige oder nenne uns die Stätten, die jemals solchen Zusammenkünften geweiht gewesen wären, bei denen nicht Spiele aufgeführt wurden unter unzüchtigen Worten und Gebärden der Schauspieler, auch nicht Fluchtfeste[85] gefeiert wurden unter Freiheit für jede Art von Schändlichkeiten[86] ; sondern Zusammenkünfte, bei denen das Volk zu hören bekam, was für Vorschriften die Götter gaben über die Bändigung der Habsucht, die Bezähmung des Ehrgeizes und die Zügelung der Wollust, bei denen die Unglücklichen lernen konnten, was Persius[87] zu lernen so eindringlich empfiehlt mit den Worten:
„Lernet, ihr Unglücksel'gen, erkennen die Gründe der Dinge,
Was wir sind und wozu wir geboren; in welche Reihen
Wir gestellt; woher und wo das Ende sich schleichend herannaht;
Welches das Maß im Besitz; was recht ist zu wünschen; was hartes
Gold kann nützen; wieviel dem Vaterlande, wieviel auch
Teuren Verwandten zu spenden geziemt; wie Gott dich gewollt hat;
Welcher Platz dir im Leben gewiesen ist unter den Menschen.“
Man soll uns sagen, an welchen Stätten derlei Vorschriften lehrender Gottheiten verlesen und von dem sie verehrenden Volk regelmäßig angehört wurden, so wie wir auf hiezu errichtete Kirchen hinweisen können überall, wohin sich die christliche Religion verbreitet hat.
7. Die Erfindungen der Philosophen sind in Ermanglung göttlicher Autorität kraftlos, da weit wirksamer zur Nachfolge reizt, was Götter tun, als was Menschen sagen.
Oder werden sie uns auf die Schulen und Erörterungen der Philosophen hinweisen? Zunächst sind diese nicht römisch, sondern griechisch; oder wenn sie deshalb römisch sein mögen, weil auch Griechenland eine römische Provinz geworden ist, so handelt es sich hier doch nicht um Gebote von Göttern, sondern um Erfindungen von Menschen, die mit allem Scharfsinn auf dem Weg der Spekulation irgendwie zu erforschen suchten, was in der Natur der Dinge verborgen liegt, was auf dem Gebiet der Moral anzustreben und zu meiden ist, was nach den Regeln der Schlußfolgerung in einem notwendigen Zusammenhang steht oder was nicht folgerichtig ist oder auch einen Widerspruch in sich schließt[88] . Manche von ihnen haben wichtige Entdeckungen gemacht, soweit ihnen Gott seine Hilfe lieh; soweit ihnen aber menschliche Beschränktheit hinderlich war, sind sie in die Irre gegangen, vorab weil ihrem Hochmut die göttliche Vorsehung mit Recht widerstand, um auch an ihnen, nur eben im Widerspiel, zu zeigen, daß der Weg der Frömmigkeit von der Demut seinen Ausgang nehme und emporführe, ein Punkt, über den sich, wenn es der Wille Gottes des wahren Herrn ist, später Gelegenheit zur Untersuchung und Erörterung finden wird. Indes, wenn die Philosophen auf etwas gekommen sind, was zur Führung eines rechtschaffenen und zur Erlangung eines glückseligen Lebens hinreichend sein kann, wieviel billiger wäre es dann, ihnen göttliche Ehren zuzuerkennen! Wieviel besser und anständiger wäre es, wenn in einem Tempel Platos dessen Bücher verlesen würden, als daß sich in den Tempeln der Dämonen Priester der Kybele entmannen, Lustknaben sich weihen, Rasende sich verstümmeln, und was sonst noch Grausames und Schandbares oder schandbar Grausames und grausam Schandbares in den Tempeln solcher Götter vor sich zu gehen pflegt! Wieviel wirksamer wäre es, zur Erziehung der Jugend in der Gerechtigkeit Gesetze von Göttern öffentlich zu verlesen als in eitlem Dünkel Gesetze und Einrichtungen der Vorfahren zu rühmen! Denn all die Verehrer solcher Götter sehen, sobald sie, wie Persius[89] sagt, „die in hitziges Gift getränkte“ Lust dahinnimmt, weit mehr auf das, was Jupiter getan, als was Plato gelehrt oder Cato geurteilt hat. So läßt Terenz[90] einen lasterhaften Jüngling ein Wandgemälde erblicken,
„auf dem die Sage vorgestellt,
Wie Jupiter einst goldnen Regen sandt' in den Schoß der Danae“,
und sich auf dieses gewichtige Vorbild zur Beschönigung seiner Ausschweifung berufen, in der er einen Gott nachzuahmen sich brüstet.
„Und welchen Gott“,
fährt er fort;
„Ihn, dessen Donner des Himmels Höh'n und heil'ge Bezirke zittern macht!
Ich, ein Menschlein, sollt's nicht wagen? Ja, ich tat es, und mit Lust.“
8. Die Götter werden durch die Bühnenspiele, in denen ihre Schändlichkeiten öffentlich vorgeführt