Die Einfälle der heiligen Klara. Pavel Kohout. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pavel Kohout
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711461365
Скачать книгу

      rief der Mathematiklehrer auf der Schwelle.

      Tikal beeilte sich. Als er an der Urbanová vorbeikam, war er weit genug von Brunát entfernt, um drohend flüstern zu können:

      – Daß du bloß keinen Pieps machst!!

      Da dies auch die anderen flüsterten, ergab sich ein menschenunähnliches Gezisch, von dem Grauen ausging.

      Das pummelige Mädchen aus der dritten Bank stolperte in das Direktorzimmer. Die Klasse schaute ihr voll banger Vorahnung nach. Man kannte sie gut, sie und ihren Vater.

      Ebensogut kannten sie der Direktor und der Mathematiklehrer. Sie blickten einander an und wußten: jetzt oder nie.

      – Urbanová!

      hub der Direktor streng an, und die scharfe Spitze des Bleistifts zielte ohne Scheu auf ihre Brust, die stufenlos in ein rundliches Bäuchlein überging,

      – du als Tochter deines Vaters kannst doch nicht so eine Lumperei decken! Also heraus damit! Wer hat da alles seine Hand im Spiel? Wir wissen’s ohnehin schon!

      Der klassische Trick aller Ermittler verfing jedoch erstaunlicherweise nicht. Die Urbanová entsann sich der einundvierzig Gesichter, die ihrer auf dem Korridor harrten. Sie raffte sich zu verzweifeltem Widerstand auf.

      – Ich weiß nicht ... Ich hab’s ausgerechnet ...

      – Behaupte von mir aus, du hättest Amerika entdeckt. Jedenfalls glaube ich dir das eher, als daß du diese Beispiele allein ausgerechnet hast!

      – Vorgestern hab ich den ganzen Abend dran herumgerechnet!

      Der Mathematiklehrer verließ seinen Platz an der Tür und sprang auf sie zu, mit der Energie des erfolgreichen Jägers. Aus seiner ganzen Höhe dröhnte er auf sie herab.

      – Ah! Jetzt haben Sie sich verplappert! Wie konnten Sie vorgestern abend wissen, welche Beispiele ich Ihnen gestern morgen aufgeben würde?

      Er siezte die Schüler grundsätzlich, damit sie merkten, daß sie es nicht mit ihrem Onkel zu tun hatten.

      Die Urbanová verlor vor Schreck die Sprache und bewegte lautlos die Lippen.

      – Also, paß auf,

      ließ der Direktor sich vernehmen und stand auf, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen,

      – fassen wir zusammen. Zweiundvierzig fehlerlose Arbeiten, und vierzig Mitschüler haben hier vor dir behauptet, es ist ein Zufall. Wenn du als einzige jetzt einen Betrug zugibst – und den hast du zugegeben! –, dann bist du auch als einzige dafür verantwortlich, hab ich recht? Ich rufe jetzt deinen Vater an, der soll die Befragung selbst weiterführen.

      Die Urbanová ächzte.

      – Nein! Nein, bitte nicht ...

      Polizeihauptmann Urban war allgemein als Mann und Vater bekannt, der strengstens auf die Einhaltung der Gesetze achtete und noch strenger auf die Erziehung seiner Tochter. Dies entsprang der Überzeugung, die Tochter eines Polizeibeamten müsse allen anderen ein Vorbild sein. Die Striemen, welche die Hinterbacken der Urbanová nach jedem Vergehen, nach jedem Zeugnis zierten, waren das einzige, was ihr in der Klasse eine kurzlebige Sympathie verschaffte. Ansonsten stand sie im Ruf einer Heulsuse und Petzerin.

      – Andernfalls,

      ging der Direktor zum Angriff über,

      – sagst du uns nun klipp und klar, wie’s gewesen ist! Also??

      Er stand jetzt unmittelbar neben dem Präsidenten. Der Urbanová flimmerte es vor den Augen. Der Präsident schaute zwar ins Abseits, aber er hörte alles. Sie begriff, ihm durfte man nicht ins Gesicht lügen. Aber sie dachte auch an die draußen und jammerte los.

      – Die werden nicht mehr mit mir reden ...

      – Warum werden sie nicht mehr mit dir reden?

      – Wir haben geschworen ...

      Die beiden Pädagogen tauschten vielsagende Blicke. Die Jagd neigte sich dem Halali entgegen. Der Direktor tönte wieder väterlich.

      – Aber Urbanová! Ein erzwungener Schwur zählt doch nicht. Und wenn du Angst hast, dann schwören wir dir beide, der Genosse Brunát und ich, daß niemand es von uns erfährt. Schau, wir verhören jetzt noch die Zimová, und dann geben wir einfach bekannt, wir hätten’s von Anfang an gewußt! Na also, Urbanová, wer hat euch die Beispiele verraten?

      Auf dem nahen Staatsgut fingen die Hähne an zu krähen. Die Urbanová schniefte kurz und ward zur Verräterin.

      – Die Zimová ...

      Das war der letzte Name, den sie erwartet hatten.

      – Die Zimová?

      wiederholte der Direktor ungläubig.

      – Aber die Zimová konnte doch nicht ...

      hielt der Mathematiklehrer mitten im Satz inne.

      Die Freude über den Blattschuß wechselte mit Enttäuschung. Statt einer wilden Bestie hatte man ein Kaninchen erlegt. Der Direktor faßte sich.

      – Dann fragen wir sie eben!

      Eingedenk seines Schwurs nickte er der unglücklichen Urbanová huldvoll zu.

      – Schon gut. Warte draußen.

      – Zimová!

      rief an der Tür der Mathematiklehrer. Er konnte nicht verhindern, daß es feierlich klang.

      Zum Direktorzimmer schritt das grazile Mädchen mit dem kastanienfarbenen Haar und den mandelförmigen Augen, verfolgt von den vierzig Paar anderen.

      Daß diese Stecken sie tragen! wunderte sich Tikal wie immer. Gleich darauf wunderte er sich abermals, nämlich daß er ihr nicht mal in Gedanken ein Bein gestellt hatte, wie bei jeder Gelegenheit seit der ersten Grundschulklasse, sondern ihr Schreiten mit einer nebulosen Beklommenheit verfolgte.

      Wie schade, daß die strahlendsten Sekunden unseres Daseins im Dunkel der Unwissenheit verdämmern! Binnen einiger Minuten war Tikals Kindheit zu Ende gegangen. Ohne Warnung hatte das Mannestum gleich zwei seiner Organe befallen, die Stimme und das Gefühl. Jene vermittels Bruch, dieses vermittels Liebe.

      Aller Blicke verlagerten sich auf die Urbanová, die sich um ein Lächeln bemühte. Es fiel kläglich aus.

      – Du, hör mal,

      fragte Brož, als Häuptling Tikal es seltsamerweise unterließ,

      – wieso warst du so lange da drin?

      Von der Ecke des Korridors her näherte sich eilig der Schulwart und rief:

      – Während der Ermittlungen wird nicht geredet!

      Brož erwiderte hinter Tikals Rücken:

      – Während der Ermittlungen wird nicht geraucht.

      Coufal hielt inne. Sein Haupt umschwebte ein Wölkchen von Zigarrenrauch. Er sah aus wie ein gekränkter Heiliger.

      – Wer hat das gesagt?

      Hinter Bašusens Rücken sagte Tikal, der schon wieder zu sich gekommen war:

      – Niemand.

      – Drum eben!

      – Setz dich,

      sagte der Direktor zur Zimová; er war entschlossen, sie einfach zu überrumpeln.

      – Denk mal an, wir wissen schon alles. Leugnen ist zwecklos.

      Das Mädchen hatte nichts dergleichen vor. Sie sah ihn mit ihren leicht schrägstehenden Augen an, in denen kein Schatten von Angst oder Nervosität zu erkennen war.

      Ist es möglich, wunderte sich der Direktor, daß solche Augen so abgebrüht lügen können? Herrgott, seufzte er im Geiste, als Pädagoge kommt man sein Leben lang nicht aus dem Staunen heraus. Aber halt, mein Mädchen, dir erteile ich eine Lektion! Er zielte mit dem Bleistift