Die Einfälle der heiligen Klara. Pavel Kohout. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pavel Kohout
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711461365
Скачать книгу
Arbeiten findet sich in keinem der fünf Beispiele auch nur ein einziger Fehler. Alle –

      seine Stimme versagte vor Empörung, er mußte schlucken und Atem holen, um weitersprechen zu können

      – sind richtig. Man könnte sagen, sie seien alle gleich richtig. Bitte, Genosse Direktor ...

      Er verbeugte sich hölzern, legte den Stoß Hefte aufs Katheder und stieg vom Podium. Der Direktor trat vor die Tafel. Er war so auf seine Mitteilung konzentriert, daß er sich ebenfalls unbewußt verbeugte.

      – Meine lieben Schüler, ich sollte euch also im Namen der gesamten Lehrerschaft gratulieren und ein derart glänzendes Ergebnis dem Unterrichtsministerium mitteilen. Ja, vielleicht sollte ich es auch euren Eltern und der Öffentlichkeit bekanntgeben und in der Aula eine Feier veranstalten, um euch sämtlichen Jahrgängen als Beispiel vorzuhalten!

      Ein anderer Laut wurde vernehmbar. Die Klasse begann vor Begeisterung zu raunen.

      – Doch zuvor müssen wir uns eine Frage stellen!

      Seine Stimme veränderte sich bis zur Unkenntlichkeit. Er und der Mathematiklehrer bekamen plötzlich eiskalte Augen wie Detektive.

      – Wurde hier nicht –

      sein Zeigefinger zitterte über dem Stoß Hefte wie über einer Zeitbombe

      – ein unglaublich dreister, geradezu globaler Betrug verübt?

      In der Klasse breitete sich Grabesstille aus, während in sämtlichen Gemütern eine Höllenmaschine tickte.

      – Meine lieben Schüler! Ich will dem Schuldigen Gelegenheit geben, freiwillig ein Geständnis abzulegen. In diesem Fall wären Kollege Brunát und ich bereit, das Ganze als dummen Scherz aufzufassen, als einen Bubenstreich, der unter uns bleibt. Nun? So ein Angebot werdet ihr doch nicht ausschlagen, hab ich recht?

      Tikal überzeugte sich durch einen Seitenblick, wie die Situation in der dritten Bank am Fenster aussah. Das mandeläugige, kastanienhaarige Mädchen schaute den Direktor gelassen interessiert an. Dafür verriet ihre pummelige Nachbarin höchste Beunruhigung; ihr Kinn zitterte, als hielte sie nur mühsam die Tränen zurück.

      Das krampfhaft freundliche Lächeln auf dem Gesicht des obersten Pädagogen der Schule erlosch jäh. Er schlug mit der Faust auf den Stoß Hefte, und seine Stimme knatterte los wie ein Colt; sie bestätigte die Richtigkeit seines Spitznamens.

      – Na schön! Dann versuchen wir’s anders. Genosse Brunát, rufen Sie den Schulwart! Einer nach dem anderen zu mir!

      Tikal stellte sich ein feuchtes Kellergewölbe vor, von züngelnden Fackeln geschwärzt. Auf schräger Leiter festgeschnallt ein Jüngling in Fetzen: Tikal. Der Direktor befragt ihn, der Schulwart dreht die Winde, der Mathematiklehrer brennt ihn mit glühenden Eisen.

      Tikal verspürte tiefe Erleichterung darüber, daß er in einem Jahrhundert lebte, in dem Folterung an Schulen gesetzlich verboten ist.

      II

      Woran man einen anständigen Bürger erkennt. – Denunziation als Unterrichtsfach. – Vierzig Verhöre und ... – Hilft eine lebhafte Phantasie beim Rechnen? – Die Tochter eines Polizeibeamten muß den anderen ein Vorbild sein. – ... und ein Verrat! – Ist es möglich, daß Mandelaugen abgebrüht lügen können? – Nicht nur Betrug, sondern auch Einbruch! – Jeder hat andere Einfälle.

      Es gibt Länder, deren Regierung behauptet, jeder anständige Bürger müsse wenigstens einmal im Leben im Knast gesessen haben. Diese Behauptung ist berechtigt, sofern die Zahl der Bürger, die nicht im Knast gesessen haben, nicht einmal zur Bildung der Regierung ausreicht, in der dann eben auch Knastbrüder sitzen müssen.

      Unbedingt gilt jedoch für fast alle Länder, daß gegen jeden anständigen Bürger zumindest einmal im Leben ermittelt wird. Auch darauf werden die künftigen Bürger von der Schule vorbereitet. Will sagen, daß den praktischen Übungen in diesem Fach viel mehr Zeit gewidmet wird als etwa dem Unterricht in Empfängnisverhütung.

      In den Ermittlungsstunden, ob nun vom Verlust des Klassenbuchs oder vom Rauch in der Knabentoilette veranlaßt, wird alles eingeübt und abgefragt, womit der Schüler in Berührung kommen und was man von ihm im praktischen Leben erwarten wird: geschicktes Herauswinden und hartnäckiges Abstreiten, väterlicher Zuspruch, der in existentiellen Druck mündet, Denunziation als mildernder Umstand und Geständigkeit als Hauptbeweis für die eigene Schuld.

      Die Ermittlung in Sachen des epochalen Erfolgs der Klasse 8 a fand im Direktorzimmer statt. Der Mathematiklehrer rief einen nach dem anderen in alphabetischer Reihenfolge und ohne Ansehen des Geschlechts herein. Schulwart Coufal gab auf dem Korridor acht, daß keine Absprachen stattfanden. Seine Lunge gierte unentwegt nach Nikotin, so daß er immer wieder Patrouillengänge um die Ecke des Korridors vortäuschte, um an der Zigarre ziehen zu können, die hinter der Büste eines Volkstumsbarden versteckt war.

      Absprachen erübrigten sich. Alle wußten, daß die Gefahr erst ganz am Ende des Alphabets lauerte. Um Bašus bis Tikal bangte keiner.

      – Bašus,

      sagte Direktor Plavec, hinterm Schreibtisch sitzend, genau unter dem Bild des Präsidenten der Republik, der bedeutungsvoll irgendwohin ins Abseits schaute, als wollte er damit Plavecens Autorität unterstreichen,

      – du hast es doch nicht nötig, zu schwindeln, du ganz gewiß nicht, hab ich recht?

      Er duzte die Schüler grundsätzlich, damit sie um so eher begriffen, daß er ihr zweiter Vater war.

      Bašus nickte bescheiden. Er war ein ernster Knabe mit starker Brille, und in seiner Freizeit verifizierte er daheim die Richtigkeit der Formeln, die Einstein zur Relativitätstheorie geführt hatten. Mathematiklehrer Brunát nahm ihn seit einiger Zeit lieber nicht mehr dran.

      – Ich würde fast glauben,

      fuhr der Direktor geradezu freundschaftlich fort und neigte den scharfgespitzten Bleistift, der bis dahin auf Bašusens Brust gezielt hatte,

      – daß du ihnen das ausgerechnet hast, wenn’s nicht einhundertzwanzig Beispiele wären. Einhundertzwanzig Spickzettel schreiben, das zahlt sich für niemanden aus, was meinst du?

      Bašus zuckte höflich die Achseln.

      – Also, weißt du was davon oder nicht?

      Bašus schüttelte bedauernd den Kopf.

      Der Direktor hatte keinen Grund, ihm nicht zu glauben, aber ebensowenig, ihm zu glauben. Beides gab er ihm zu verstehen.

      – Nun, ich danke dir. Du kannst gehen, einstweilen.

      – Batková!

      rief der Mathematiklehrer auf den Korridor hinaus.

      Bašus nahm auf der Schwelle die Brille ab, um seiner Mitschülerin aufmunternd zublinzeln zu können.

      Das zweite bis vierzigste Verhör lief, von Abweichungen abgesehen, in denselben Bahnen.

      – Batková,

      sagte Direktor Plavec, den Bleistift auf sie gerichtet, den er jedoch sofort senkte, als er bemerkte, daß der Mädchenbrust neuerdings ein weiblicher Busen entsprossen war,

      – gib zu, ich kenne dich lange genug, um über dich Bescheid zu wissen. Die Beispiele muß dir jemand gegeben haben!

      – Wirklich nicht ...

      behauptete die Batková.

      – Tikal,

      sprach Direktor Plavec, nach einer Stunde schon heiser geworden,

      – ich weiß, du hast eine lebhafte Phantasie, aber beim Rechnen hat sie dir nie viel genützt. Du mußt das abgeschrieben haben!

      – Ehrlich nicht ...

      beteuerte Tikal.

      Dabei kippte ihm so merkwürdig die Stimme um, daß es ihn kalt überrieselte. Er hatte immer gedacht, radfahren und lügen verlerne man nicht.

      Aber