„Gegenfrage: Wie zum Teufel sind die Herrschaften hier an eine Pistole gelangt?“
Charlotte seufzte tief auf und nickte. „Todeszeitpunkt?“
„Irgendwann um Mitternacht herum, würde ich sagen.“ Die Strickner runzelte die Stirn, widmete sich noch einmal dem Körper des Toten und deutete nun auf mehrere Blutergüsse am Oberkörper. „Sehen Sie die Hämatome hier? Jemand muss ihn kurz vor seinem Tod noch ordentlich verprügelt haben.“ Damit richtete sie sich auf und legte die Instrumente ordentlich in den Koffer zurück. „Zuerst verprügelt und wenig später erschossen. Mehr kann ich Ihnen erst sagen, wenn ich ihn auf meinem Tisch hatte.“
Und das war es dann auch. Die Ärztin schnappte sich ihren metallenen Koffer und verschwand, ohne einen weiteren Blick auf die Leiche zu werfen.
6. KAPITEL
Nichts Ungewöhnliches
„Was ist hier passiert?“
Heide Sacher erwiderte den Blick der Patientin, deren Haare ihr schwarz, strähnig und fettig ins Gesicht fielen. Zwang sich, nicht wegzusehen. „Herr Tämmerer ist tot.“
Die Worte hingen einen Moment lang in der Luft. Die Hand der Patientin fuhr zum Mund. Man vermochte beinahe zu sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete, wie sie die Information zu bewältigen versuchte. Als wäre sie betrunken, ging sie ein paar Schritte im Halbkreis. Dann wandte sie sich plötzlich ab und stürzte sich ohne Vorwarnung auf Jan Jäger.
„Frau Yilmaz!“, rief Heide noch, aber die Frau reagierte gar nicht auf sie.
„WAS HABEN SIE GETAN, UM IHM ZU HELFEN?“
Jäger hob abwehrend beide Hände in die Höhe.
„SIE HÄTTEN IHN SCHÜTZEN MÜSSEN! WAS HABEN SIE GETAN, UM IHN ZU SCHÜTZEN?“
„Frau Yilmaz!“ Heide Sacher packte die Hände der Patientin und drehte dabei deren Hände nach oben. Zutage kam ein Zickzack frisch vernarbter Schnittwunden am Unterarm.
„FASSEN SIE MICH NICHT AN!“
Und dann begann ein ungleicher Kampf mit ungleichen Mitteln. Ein verbissen harter Kampf, bei dem niemand aufgeben wollte. Zekine Yilmaz hatte keine Waffe, aber die brauchte sie auch nicht. Sie selbst war die Waffe. Sie schrie, schlug um sich, trat, boxte, kratzte und spuckte. Heide Sacher versuchte, ihre Arme festzuhalten und an ihren Körper zu pressen. Sie war deutlich größer und schwerer als die junge Frau, aber die schreckte vor keinem Mittel des Kampfes zurück. Sie rammte Heide ihr Knie in den Unterleib, und als diese mit einem unterdrückten Schrei zurückwich und sich für einen Moment nach vorne krümmte, nutzte Zekine die Gelegenheit, um mit geballten Fäusten auf Jäger einzuschlagen. Ihr Kopf schwankte dabei unkontrolliert hin und her. Zornestränen liefen aus ihren Augen.
Heide rappelte sich auf und warf sich von hinten auf sie. „Halt ihre Hände fest!“, befahl sie ihrem Kollegen.
Erneut entbrannte ein heftiger Kampf, doch dann hatten die beiden Pfleger es geschafft. Mit vereinten Kräften packten sie die Frau und schafften sie in ihr Zimmer.
Zehn Minuten später zog Heide mit zitternden Fingern ein Taschentuch aus ihrem Kittel. „Das war unglaublich!“, entfuhr es ihr, während sie sich Blut von der Lippe tupfte.
Jäger rückte seinen weißen Kittel zurecht und fuhr sich durch die Haare. Wer ihn nicht kannte, hätte ihm keinen solchen Kraftakt zugetraut, so schmal und zierlich wie er war. Allerdings atmete auch er ziemlich schwer. „Sie ist völlig durcheinander. Kann man ja auch verstehen.“
„Auf jeden Fall war es ziemlich knapp.“ Heide faltete das Taschentuch so, dass sie eine saubere Ecke benutzen konnte. Als sie sich dann abwenden und das Pflegerzimmer verlassen wollte, sah sie sich Charlotte Gärtner gegenüber, die in der Tür stand und sagte: „Ich hätte da noch ein paar Fragen an Sie beide.“
Jäger seufzte leise auf. Heide sagte mit deutlich zerknirschter Stimme: „Natürlich.“
Zufrieden nickend zog Charlotte einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche und stellte fest, dass sie schon wieder keinen Notizblock zur Hand hatte. Sie entdeckte einen Papierkorb, zog ein Blatt heraus, auf dem jemand Strichmännchen gezeichnet hatte, glättete es und sah sich um. Da das Zimmer nicht sehr geräumig war – viel mehr als ein Tisch mit zwei Stühlen, eine Spüle und ein Medizinschrank mit mehreren Schlössern passten nicht hinein –, entschied sie sich, stehen zu bleiben. Sie sah in Jägers Richtung und sagte: „Die Patientin von eben scheint kein großer Fan von Ihnen zu sein.“
Er räusperte sich. „Sie denkt, wenn wir Tämmerer besser beschützt hätten, dann wäre der Mord nicht passiert.“
„Und? Hat sie recht damit?“
„Natürlich nicht“, antwortete Heide für ihn. „Wir nehmen unseren Job sehr ernst, Frau Kommissarin. Aber wie, bitte schön, hätten wir diesen Mord verhindern sollen?“
Charlotte warf den beiden jene Art von Blick zu, die jedem anderen normalerweise feuchte Hände bescherte, beließ es aber vorerst bei dieser Aussage. „Wann haben Sie Weinfried Tämmerer das letzte Mal lebend gesehen?“
„Oh, das war gestern Mittag im Speiseraum.“ Das kam nun von Jan Jäger. „Gegen zwölf Uhr.“
„Und da sind Sie sich sicher?“
„Aber ja. Ganz sicher.“
Charlotte notierte und fragte weiter: „Und wie wirkte er da?“
„Da uns nichts an ihm aufgefallen ist, wird er wohl wie immer gewesen sein.“ Die Stimme der Pflegerin klang schon wieder reichlich feindselig.
„Und heute Morgen?“, fragte Charlotte weiter.
Kopfschütteln von Heide Sacher.
Kopfschütteln von Jan Jäger.
Charlotte seufzte leise auf. „Nun, da er heute Morgen um sieben Uhr bereits tot war, gehe ich nicht davon aus, dass er am Frühstück teilgenommen hat. Und das ist Ihnen nicht aufgefallen, nein?“
Jäger schürzte die Lippen. „Doch. Natürlich. Ich war ja noch bei seinem Zimmer und habe laut an die Tür geklopft, aber er reagierte nicht.“
„Wann war das?“
„Um kurz nach sieben. Vielleicht fünf Minuten nach.“
„Was haben Sie dann gemacht?“
„Ich wollte gerade in das Zimmer gehen, als es eine Störung gab, und dann …“
„Entschuldigen Sie“, unterbrach Charlotte. „Ich bin noch nicht ausreichend eingeführt in die psychiatrisch-klinische Sprache. Was genau ist ‚eine Störung‘?“
„Wenn der geregelte und vorgegebene Ablauf innerhalb der Station durch außergewöhnliche Situationen unterbrochen wird, das nennt man Störung“, erklärte Jäger geduldig. „In diesem Fall hatte einer der Patienten sein Bett angezündet, und ich musste helfen, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Ich dachte mir, dass ich Tämmerer dann eben später holen würde, falls er dann immer noch in seinem Bett läge. Er konnte mir ja kaum entkommen, nicht wahr?“
Charlotte sah den Pfleger aufmerksam an. „Die Tür war also verschlossen, als Sie um kurz nach sieben davorstanden?“
„Ja.“
Einen Moment wurde es still.
„Gibt es sonst noch etwas, was Ihnen einfällt?“
Kopfschütteln von Jäger.
Kopfschütteln von Heide Sacher.
„Haben Sie auch zur Klärung der Störung beigetragen?“, wollte Charlotte von der Pflegerin wissen.
„Natürlich“, antwortete Heide Sacher. „Wir müssen solche Dinge immer zu zweit angehen. Das ist Vorschrift.“
„War sonst noch jemand dabei?“
„Frau