Susanne hielt in der Bewegung inne. „Wirklich? Du warst bei der Polizei?“
„Hmm.“
„Und was hast du dort gemacht? Ich meine, es gibt da ja so einiges. Drogen, Sitte, Diebst…“
„Mordkommission.“
„Mord…?“ Susanne formte den Anfang des Wortes mit den Lippen und ließ es dann verklingen. „Wow! Und warum bist du dort nicht mehr?“
„Lange Geschichte.“ Das war es. Julia hatte nicht die Absicht, weiter darauf einzugehen, und Susanne schien immerhin zu wissen, wann es keinen Sinn machte, weiter nachzubohren. Seufzend hob sie etwas die Schultern an. „Und was meinst du, was die Polizei jetzt als Nächstes vorhat?“
„Sie werden die ganze Station auf den Kopf stellen. Wenn du also irgendwo ein paar Augen versteckt hast, dann solltest du sie noch rechtzeitig beseitigen.“ Damit wandte Julia sich ab und ging in Richtung ihres Zimmers davon.
10:37 Uhr
Wie sich herausstellte, war Professor Dr. Ulrich Malwik, der Leiter der Klinik Mönchshof, ein kleiner drahtiger Mann von Mitte fünfzig, mit wirren abstehenden Haaren und einer verblüffenden Ähnlichkeit mit Albert Einstein.
Er schien entschlossen, den Deckel so lange wie möglich auf der Sache zu halten. Am liebsten wäre ihm wohl für immer gewesen. Aber das ging natürlich nicht.
Wie auch immer, er begrüßte Charlotte und bat sie, auf der anderen Seite seines Schreibtisches Platz zu nehmen. „Alles andere als ein guter Tag“, stellte er fest und setzte sich ebenfalls. „Ein tragischer Tag, trifft es wohl eher. Was für eine grässliche Geschichte.“
Charlotte nickte und wollte etwas sagen, doch der Psychiater war noch nicht fertig. Er sprach bereits weiter, wobei seine Hände tanzten und hüpften wie die eines Dirigenten: „Die Geschichte des Klosters, in dem wir uns befinden, ist zwar von Gewalt geprägt, aber das ist ja nun schon lange her. Jetzt allerdings … Nun, vielleicht sollte ich Ihnen zuerst etwas über unsere Klinik erzählen. Sie wurde 1960 eröffnet, und inzwischen beherbergen wir im Schnitt fünfzig Patienten, aufgeteilt in Einzel-, Zweibett- und Mehrbettzimmer, wobei es sich um mehr Einzel- als Zweibettzimmer handelt. Mehrbettzimmer haben wir inzwischen nur noch drei. Ich war noch nie ein Fan davon, Menschen mit den verschiedensten psychischen Krankheiten in einem Zimmer zusammenzupferchen, weil das nur unnötig Störungen provoziert, die wiederum unnötig den geregelten Stationsablauf behindern.“ Er seufzte leise und fuhr dann fort: „Wir haben sieben Vollzeit- und zwei Halbtagskräfte und arbeiten nicht vollständig autonom, das heißt, wir haben kein eigenes Krankenhaus und auch keine eigene Küche. Wir beschäftigen nicht nur Psychiater, sondern auch eine Ergotherapeutin sowie zwei Sozialarbeiter, weil wir wollen, dass die Patienten sich in der Außenwelt zurechtfinden können, wenn sie uns wieder verlassen. Sie sollen in jeder nur erdenklichen Form gestärkt sein und in der Lage, ihr Leben zielgerichtet in die eigene Hand zu nehmen.“
„Nun ja“, setzte Charlotte an. „Das mit dem ‚zielgerichtet in die Hand nehmen‘ scheint einem Ihrer Patienten letzte Nacht ja schon recht gut gelungen zu sein.“
Malwik hörte auf zu dirigieren und legte nun die Hände aneinander wie ein Pfarrer, der seine Gemeinde zum Gebet versammelt. „Ich bin selbst am unglücklichsten darüber, das dürfen Sie mir glauben. Sie haben ja keine Vorstellung, was hier auf einmal los ist. Die Patienten strömen in Scharen zu mir, und jeder Einzelne erwartet natürlich, dass ich ihm berichte.“
„Und was berichten die Patienten selbst?“
„Ah … Was das betrifft, hat mich leider niemand eingeweiht.“ Malwik schüttelte den Kopf. „Ich wünschte, ich wäre besser informiert.“ Er seufzte unglücklich auf, erhob sich und trat ans Fenster. „Das dort unten ist unser Park.“ Als hätte Charlotte nicht hindurchlaufen müssen, um überhaupt ins Innere der Klinik gelangen zu können. „Ich habe ihn bereits zur Kenntnis genommen“, gab sie zurück. „Er ist sehr hübsch. Wer kümmert sich eigentlich darum?“
„Wir haben eine externe Gärtnerei damit beauftragt.“
„Dürfen die Patienten in den Park?“, wollte Charlotte weiter wissen.
„Normalerweise nicht, es sei denn, sie erhalten eine gesonderte Erlaubnis und werden von einem Pfleger begleitet.“
Arme Patienten. Da hatten sie das Paradies vor Augen, durften es aber nicht betreten.
„Was mich interessiert“, wechselte Charlotte das Thema, „ist die Frage, was für ein Mensch Weinfried Tämmerer war. Wie hat er sich hier eingefügt? Wie war die Beziehung zwischen ihm und den anderen Patienten? Ich brauche absolute Offenheit, Herr Professor.“
Der Appell war eindeutig, und Malwik reagierte prompt und empört. „Bei allem Respekt, Frau Kommissarin, ich habe nicht die Absicht, Ihnen etwas zu verheimlichen. Die Beziehung zwischen Tämmerer und den anderen Patienten war alles andere als harmonisch.“
„Warum?“
„Es gab … Differenzen.“
„Welcher Art?“
„Nun, aus irgendeinem Grund, den wir bisher noch nicht nachvollziehen konnten, gelangte seine Diagnose unter die anderen Patienten, und das führte zu gewissen … Spannungen. Natürlich war dieser Umstand … unglücklich. Aber es war nun einmal passiert.“
„Und wie lautete seine Diagnose?“
Malwik schwieg und rieb sich das Nasenbein.
„Er ist tot, Herr Professor“, sagte Charlotte. „Er wurde umgebracht. Es gibt keinen Grund mehr, auf Ihre ärztliche Schweigepflicht zu pochen. Also bitte, wie lautete seine Diagnose?“
„Pädophilie. Und“, fügte der Psychiater schnell hinzu, „er fürchtete sich im Dunkeln.“
Charlotte blinzelte und fragte sich, ob sie gerade auf den Arm genommen wurde. Doch Malwik schien es ernst zu meinen. Er kratzte sich am Kopf und fügte hinzu: „Tatsächlich. Die Angst vor der Dunkelheit, die Heimstatt aller Schrecken, befindet sich in uns allen, Frau Kommissarin.“
Das war nicht das Thema, das Charlotte am meisten interessierte. „Bleiben wir bei der Pädophilie“, verlangte sie.
Es dauerte noch einen Moment, dann sagte der Professor: „Tämmerer war Lehrer an einer Hauptschule. Vor einem Jahr musste er den Beruf aufgeben, weil er eine seiner Schülerinnen angefasst haben soll.“
„Gab es eine Anzeige gegen ihn?“
„Ja, die gab es. Allerdings wurde sie wenig später wieder zurückgezogen.“
„Weswegen?“
„Das konnte abschließend leider nicht mehr geklärt werden.“
Charlotte runzelte die Stirn. „Aber es gab diesen Übergriff?“
„Ja.“
„Also war Tämmerer tatsächlich pädophil.“
„Ja. Allerdings hatte er den festen Willen, gegen die Krankheit anzugehen. Deshalb war er hier.“
Charlotte lachte trocken auf, sie konnte nicht anders. „Das nenne ich mal eine praktische Lösung für ein grundlegendes Problem: Man geht für ein paar Wochen in eine Klinik, und schon ist man von allem geheilt. Wo doch jeder Mensch weiß, dass man Pädophilie nicht heilen kann.“
„Nein. Aber man kann lernen, gegen den Drang in sich anzugehen“, erklärte Malwik steif. „Es ist ein langer und zweifellos kein leichter Weg, aber man kann ihn gehen, wenn man bereit dafür ist.“
„Und Tämmerer war bereit dafür?“
„Ja.“
Charlotte überlegte einen Moment. „Wie alt war das Mädchen?“
„Zwölf.“
„Also tatsächlich noch ein Kind.“