Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643077
Скачать книгу
Sie sind nicht sehr mitteilsam, Frau Wagner.“

       Sie stellen nicht die richtigen Fragen.“

       Wolfgang Lange war Ihr Mentor, richtig? Sie haben ihm vertraut.“

       Ich habe zu vielen Menschen vertraut. Und zu viele Menschen haben mir vertraut.“

       Sie haben in unserem letzten Gespräch angedeutet, er wollte beweisen, dass er besser ist als Sie.“

       Schweigen.

       Aber das war er nicht, sonst hätten Sie jene Nacht im April nicht überlebt. Sie waren besser als er.“

       Nichts.

       Und Sie sind es noch, denn Sie sind hier. Sie haben sich freiwillig in eine Behandlung begeben, weil Sie leben wollen.“

       Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich das wirklich will.“ Julia klappte den Mund zu, und wieder herrschte ein paar Sekunden lang Schweigen.

       Dann fragte Frau Dr. Sattler: „Warum wollte dieser Mann Sie töten?“

       Keine Antwort von Julia.

       Frau Wagner?“

       Julia stand auf, stopfte die Hände in die Taschen ihrer Jogginghose und lief im Zimmer auf und ab. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sagte: „Ich kenne die Antwort auf diese Frage nicht.“

       Wirklich nicht?“

       Erneutes Schweigen.

       Sie gestatten es sich nicht, wütend zu sein“, blieb die Psychologin am Ball.

       Weshalb sollte ich wütend sein?“

       Weil dieser Mann Sie zerstören wollte.“

       Keine Antwort.

       Aber er ist tot. Und Sie sind noch am Leben. Wie auch Ihre Freundin noch am Leben ist. Wo ist sie jetzt?“

       Eva? Sie ist abgereist. Mit unbekanntem Ziel. Wer kann es ihr verübeln?“

       Sind Sie jetzt wütend?“

       Wenn ich es bin, dann nicht auf Eva.“

      Julia starrte sich immer noch im Spiegel an.

      Die Realität hat die lästige Eigenschaft, immer das letzte Wort zu haben.

      Selbst wenn die Träume und Erinnerungen nicht gewesen wären, allein durch diese beiden Narben auf ihrem Körper würde sie jeden Tag an das Geschehene erinnert werden.

      Sie sah sie, und sie spürte den Schmerz. Und so würde es bleiben.

      2. KAPITEL

      Störung

      Fast genau drei Stunden später, um 7:06 Uhr, gab es in der Klinik eine „Störung“. Gerade hatten die Patienten noch im Speiseraum beim Frühstück gesessen, nun fanden sie sich auf dem Flur wieder und beobachteten interessiert, wie Heide Sacher und Jan Jäger mit großen Schritten auf das Zimmer von Karl Waffenschmied zueilten und dann darin verschwanden. Nur wenige Sekunden später kam auch schon Dr. Silvia Sattler angerannt. Auch sie verschwand in dem Zimmer.

      Man sagt, das Schlimmste in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik sei die Langeweile. Und tatsächlich, dies entspricht der Wahrheit. Denn wenn man nicht gerade eine Therapiestunde hat, tut man als Patient den ganzen langen Tag nichts anderes, als sich vom Frühstück zum Mittagessen und vom Mittagessen zum Abendessen zu schleppen. Dazwischen raucht man sich zu Tode – sofern man raucht und über genügend Zigaretten verfügt –, führt belanglose Gespräche – sofern man jemanden findet, der dazu in der Lage ist, sich auf belanglose Gespräche einzulassen – und tut ansonsten … nichts.

      Vielleicht spielt man gelegentlich ein Gesellschaftsspiel, was wiederum davon abhängt, ob man jemanden findet, der dazu in der Lage ist, den Sinn und die Spielregeln eines solchen Unterfangens zu erfassen. Oft genug ist dies nicht der Fall, was zur Folge hat, dass Prügeleien entstehen, Spielbretter durch die Luft geworfen oder Spielsteine samt Würfel einfach verschluckt werden, was wiederum jede Menge „Störungen“ zur Folge hat. Ansonsten, wie gesagt, tut man nichts. Außer vielleicht die Welt hinter dem Fenster zu betrachten und sich vorzustellen, was all die freien und – mehr oder minder – gesunden Menschen dort draußen jetzt wohl gerade taten. Vielleicht denkt man auch an die Familie, was dieselbe Frage zur Folge hat. Im Sommer ist es besonders schlimm. Weil die Sonne für jeden scheint. Nur nicht für die Patienten in der Klinik.

      Nun also überzog mehr oder minder lautes Gemurmel den Flur, denn endlich passierte wieder einmal etwas.

      Der Einzige, dem die Ablenkung von aller Tristesse nicht gefallen wollte, war Stefan Versemann. Störungen jedweder Art brachten seinen Rhythmus durcheinander, und das mochte er gar nicht, weil es ihn unsicher machte. Er brauchte feste Konstanten. Dinge, die absolut sicher waren, die sich beständig wiederholten und auf die er sich verlassen konnte. Deshalb legte sich sein Blick nun auch unwillig auf Waffenschmieds verschlossene Zimmertür. Vermutlich hatte der Alkoholiker, der hier schon zum x-ten Mal eine Entgiftung machte, sein Bett angezündet. Das tat er ständig. Genau genommen war das auch schon wieder eine Konstante, auf die man sich verlassen konnte. Beinahe erleichtert atmete Versemann auf. Dann sah er sich um, und sein Blick fiel auf Robert Campuzano. Der große Mann mit den langen Haaren und den vielen Tätowierungen stand, die Arme vor der Brust verschränkt, vor der Tür zum Speiseraum. „He, Schlaumeier“, sagte er.

      „Guten Morgen“, murmelte Versemann und wandte den Blick schnell wieder ab. Er hatte es sich zum Grundsatz gemacht, einen großen Bogen um diesen riesigen Kerl zu machen. Allerdings brachte er es auch nicht fertig, ihn nicht zu grüßen. Campuzano war nämlich höchst aggressiv und leicht reizbar. Man durfte ihn auf keinen Fall provozieren.

      Ganz in dessen Nähe stand der alte Viktor Rosenkranz, der wieder einmal sein Jesuskind in den Armen hielt. Das Jesuskind war eine Plastikpuppe, die er immer bei sich trug, niemals losließ und beständig fest an sich drückte.

      Viktor litt unter Demenz und war in diesem Augenblick ganz bestimmt in einer ganz anderen Welt, denn wäre er in dieser gewesen, dann hätte er sich nicht so nahe bei Campuzano aufgehalten. Jeder, der noch irgendwie – und wenn auch nur andeutungsweise – klar denken konnte, machte einen großen Bogen um den Mann. Und gerade der alte Viktor, der die achtzig bereits überschritten hatte, konnte sich kaum wehren, was ihn zu einem beliebten Opfer machte.

      Versemann sah sich weiter um.

      Von Elisa Kirsch war weit und breit nichts zu sehen. Von ihr wusste er nur, dass sie früher einmal eine einigermaßen erfolgreiche Balletttänzerin gewesen war. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie sehr er sich wunderte, als er zum ersten Mal davon hörte.

      „Man darf Menschen nicht nur nach ihrem Jetzt-Zustand beurteilen“, hatte Effinowicz damals zu ihm gesagt. „Für sie alle gab es auch einmal ein Leben vor der Klinik.“

      Wie auch immer, Elisa war schwer zu berechnen. Sie nahm nicht täglich am Frühstück teil, obwohl das eigentlich zum Pflichtprogramm gehörte, und es war Versemann noch nicht gelungen, eine echte Regelmäßigkeit in ihren Zeiten zu entdecken. Darüber ärgerte er sich, kam aber nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, weil er in diesem Moment Ilona Walter entdeckte, die offenbar die Chance nutzte, sich unbemerkt vom Frühstück zu entfernen und für einen Moment in ihrem Zimmer zu verschwinden, um wenig später mit einem Kulturbeutel unter dem Arm wieder heraus und in Richtung Duschraum zu eilen. Das war merkwürdig, denn sonst duschte sie immer schon vor dem Frühstück.